Ableismus, die Behinderung der Nichtbehinderten
Was heisst es eigentlich, eine Behinderung zu haben? In der Welt jener, die im Gegensatz zu einem Menschen mit einer Behinderung «nichts» haben, wird auf Französisch gerne das Wort «valide» verwendet. Laut aktuellem Wörterbuch ist ein «valider» Mensch eine «gesunde, arbeitsfähige» Person. Das Gegenteil haben wir auch im Deutschen: Invalide bedeutet laut Duden «arbeits-, dienst-, erwerbsunfähig, nicht zu etwas tüchtig». Äusserst charmant. Und auch sehr fortschrittlich.
Leiden Sie an Ableismus?
Ist ein Mensch mit einer Behinderung zwangsläufig «bei schlechter Gesundheit»? Man könnte meinen ja, eine Person mit einer Behinderung ist krank. Schlimmer noch: Sie leidet. Woraus man wiederum schliessen könnte, dass ein erfolgreicher Mensch mit einer Behinderung ein mutiger Mensch ist.
Mit einer Behinderung wird man automatisch als weniger beneidenswert, als minderwertig angesehen.
Solche Vorstellungen nennt man Ableismus. Es handelt sich dabei um eine Art mentale Behinderung der Nichtbehinderten, der «Validen». Auch wenn dahinter meist eine gute Absicht steckt, ist ein solches Verhalten vor allem von der unbewussten Überzeugung der Nichtbehinderten (einmal mehr stehen sie im Zentrum) geprägt, dass das Nichtvorhandensein einer Behinderung ihnen eine beneidenswertere, ja sogar überlegene Position gegenüber Menschen mit Behinderungen verschafft. Dieses Verhalten kann auch, wenn auch seltener, von Feindseligkeit geprägt sein und in Form einer mehr oder weniger direkten Ablehnung der Person, die mit einer Behinderung lebt – und nicht daran leidet – auftreten. Das nennt man dann Behindertenfeindlichkeit. Da stellt sich die Frage, wer hier unfähig ist…
Normvorstellungen diskriminieren
Anders gesagt macht also der Ableismus die «fähige», «valide» oder eben nicht behinderte Person zur sozialen Norm, so die Französin Céline Extenso, Mitbegründerin des feministischen Kollektivs Les Dévalideuses. «Es handelt sich um ein typisches Sozialverhalten, bei dem das Nichtvorhandensein einer Behinderung zur Norm erklärt wird», erläutert sie. «Mit einer Behinderung wird man automatisch als weniger beneidenswert, als minderwertig angesehen: Das führt zu struktureller Diskriminierung und dazu, dass Behinderung mit Negativem assoziiert wird.»
Ich weiss, was Sie jetzt denken: Schon wieder so ein Neologismus, den eine Minderheit eigens kreiert hat, um in die Opferrolle zu schlüpfen. Céline Extenso und ihr Kollektiv meinen dazu: «Ableismus hat es schon immer gegeben, aber viele wissen nichts oder nur wenig darüber.» Und sie fügt an: «Das Besondere an einer Unterdrückung ist, dass ihr nur eine bestimmte Gruppe von Menschen ausgesetzt ist. Diejenigen, die ausserhalb dieser Gruppe stehen, haben Schwierigkeiten, die Realität zu erkennen.»
Gute Absichten und eine wohlmeinende Haltung
Fast möchte man anfügen, dass gute Absichten und eine wohlmeinende Haltung ein infantilisierendes Verhalten gegenüber Menschen mit Behinderungen eben nicht verhindern. Als Mensch, der mit einer Behinderung lebt, ist man manchmal versucht, sich unsichtbar machen zu wollen. Die feministische Aktivistin, mit der ich gesprochen habe, erklärt: «Die Leute meinen es gut, aber für uns ist es mühsam, denn es ist unverhältnismässig.» Sie fordert das Recht einer behinderten Person ein, beim Studium oder beim Autofahren unbemerkt zu bleiben. «Es ist fast schon demütigend, denn gerade durch eine solche Hervorhebung werden wir an den Rand gedrängt.»
oder herablassend und absurd
Ganz wie die Dévalideuses versuchen viele Menschen mit Behinderungen, dieser Marginalisierung etwas entgegenzusetzen. Denn, wie das Kollektiv fordert: «Der Blick muss nicht verändert, sondern dekonstruiert werden.»
Nun müssen sich die Anhänger*innen des Ableismus nur noch bereit erklären, sich entsprechend zu therapieren: mit einer kräftigen Dosis Dezentrierung und ein wenig aktivem Zuhören im Alltag.