Barrieren bei Sozialleistungen – Ursachen und Folgen
Für viele Menschen mit Behinderungen ist der Weg zu Sozialleistungen wie IV-Rente oder Ergänzungsleistungen kein einfacher Prozess, sondern gleicht vielmehr einem Hindernislauf. Eine von Agile durchgeführte Umfrage mit rund 500 Teilnehmenden zeigt: Die Hürden sind vielfältig und oft systembedingt. Diese strukturellen Barrieren führen dazu, dass viele Anspruchsberechtigte auf Leistungen verzichten, obwohl sie ein Anrecht darauf hätten. Und selbst wenn Leistungen bewilligt werden, bleiben viele Hindernisse bestehen. Dieser Artikel bietet einen umfassenden Überblick über die häufigsten Hindernisse, ihre Ursachen und die Konsequenzen des erschwerten Zugangs zu Sozialleistungen.
Inhalt
Warum viele auf Sozialleistungen verzichten – obwohl sie ein Recht darauf hätten
Gemäss einer Umfrage von Agile verzichtet mehr als ein Viertel der Befragten auf eine oder mehrere Sozialleistungen, obwohl sie Anspruch darauf hätten. Der häufigste Grund dafür ist, dass die Formulare und Abläufe zu komplex sind. Am zweithäufigsten verzichten sie, weil sie zu wenig über die eigenen Rechte und die Sozialleistungen wissen.
Die sogenannte Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen bezeichnet die Situation, in der Personen auf Leistungen oder Rechte verzichten, obwohl sie die Voraussetzungen dafür erfüllen.
Diese Nichtinanspruchnahme ist kein Einzelfall, sondern ein strukturelles Problem.
Die häufigsten Barrieren bei Sozialleistungen
1. Langwierige Verfahren
Über die Hälfte der Befragten empfindet die Dauer von IV-Verfahren als zu lang.
2. Komplexe Informationen und Prozesse
Fast 40% haben Schwierigkeiten, die schriftlichen Informationen zu verstehen. Rund die Hälfte wünscht sich einfachere Abläufe.
3. Fehlende Barrierefreiheit
Zwei Drittel berichten, dass Informationen nicht barrierefrei zugänglich sind – sei es digital, baulich oder sprachlich (zum Beispiel fehlende Gebärdensprachdolmetschung).
4. Wissenslücken bei Fachpersonen
Knapp die Hälfte der befragten Personen, die Erfahrungen mit IV-Leistungen haben, geben an, dass die Fachpersonen tendenziell zu wenig über Behinderungen wissen.
5. Stigmatisierung und abwertendes Verhalten
Ein Drittel fühlt sich nicht ernst genommen. Einige berichten von respektlosem oder bevormundendem Verhalten – sie fühlen sich als «Bittsteller*innen» oder gar «Schuldige» behandelt.
6. Unzureichende Leistungen
Einzelne Befragte bemängeln die fehlende Absicherung durch Krankentaggeld, hohe Selbstbehalte oder ungenügende Hilfsmittelversorgung als weitere Stolpersteine.
Vier Formen der Nichtinanspruchnahme
1. Unkenntnis
Rechte sind nicht bekannt.
2. Nicht-Antrag
Rechte sind bekannt, werden aber nicht eingefordert – zum Beispiel aufgrund der umständlichen administrativen Abläufe oder wegen des mit der Leistung verbundenen Schamgefühls.
3. Nicht-Angebot
Behörden bieten Leistungen, auf die ein Anspruch besteht, nicht an.
4. Nicht-Erhalt
Leistungen werden trotz Antrag nicht gewährt – etwa wegen Verzögerungen oder Fehlern bei der Aktenbearbeitung.
Die Folgen: Isolation, Armut, gesundheitliche Risiken
Wenn Menschen mit Behinderungen auf Sozialleistungen verzichten, kann das gravierende Folgen haben:
- Soziale Isolation durch fehlende Teilhabe an der Gesellschaft
- Armut trotz Anspruch auf finanzielle Unterstützung
- Verschlechterung der Gesundheit, weil notwendige Leistungen fehlen
Das widerspricht den Grundsätzen von Inklusion, Teilhabe und Chancengleichheit, wie sie in der UNO-Behindertenrechtskonvention verankert sind.
Fazit: Sozialleistungen sind zu wenig zugänglich
Der Zugang zu Sozialleistungen für Menschen mit Behinderungen ist oft von systemischen Hürden geprägt – sei es durch langwierige Verfahren, schwer verständliche Informationen, fehlende Barrierefreiheit oder mangelndes Wissen bei Behörden. Diese Barrieren führen nicht nur zu Frustration, sondern auch dazu, dass viele Menschen auf Leistungen verzichten, auf die sie ein Anrecht hätten und auf die sie angewiesen wären.
Die Folgen sind gravierend: soziale Isolation, finanzielle Notlagen und gesundheitliche Risiken. Die Nichtinanspruchnahme ist kein individuelles Versäumnis, sondern Ausdruck struktureller Defizite im Sozialwesen. Um dem entgegenzuwirken, braucht es barrierefreie, transparente und respektvolle Verfahren – und ein System, das Menschen mit Behinderungen nicht zusätzlich belastet, sondern ihnen ein würdevolles Leben ermöglicht.
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