Berufliche Wiedereingliederung mit der IV – Erfahrungsbericht einer Autistin
Inhalt
Autismus und Job: Zwischen Fassade und Erschöpfung
«Nach meiner Autismus-Diagnose und mehreren Krankschreibungen nahm mein Berufsleben eine unerwartete Wendung. Trotz einer bis dahin erfolgreichen Karriere hatte ich bereits Erfahrungen mit Burn-out und wiederkehrenden Ausfällen gesammelt. Getrieben von Perfektionismus und dem Wunsch, zu funktionieren, übernahm ich immer komplexere Aufgaben – und versteckte meine Erschöpfung hinter einer Fassade makelloser Professionalität. Jeder Arbeitstag wurde zur Prüfung, jeder Erfolg fühlte sich an wie ein weiterer Schlag gegen mein eigenes Wohlbefinden.
Selbst nach der Autismus-Diagnose hielt ich an meinem Mantra ‹Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg› fest, obwohl meine Kräfte längst schwanden. Ich ignorierte die Warnsignale meines Körpers und die mahnenden Worte meines Psychiaters. Als ich schliesslich zum IV-Gutachten erschien, trug ich noch immer meine soziale Maske – funktionierend, kontrolliert, scheinbar belastbar. Ich behauptete, durchhalten zu können, obwohl ich innerlich längst am Limit war.
IV-Gutachten bei Autismus: Verbesserungsvorschläge
Die IV spielt eine zentrale Rolle bei der Unterstützung und beruflichen Wiedereingliederung von Menschen mit Autismus und anderen Neurodivergenzen. Doch der aktuelle Begutachtungs- und Rehabilitationsprozess weist erhebliche Schwächen auf – Schwächen, die nicht nur die Wirksamkeit der Massnahmen beeinträchtigen, sondern auch das Vertrauen der Betroffenen untergraben. Basierend auf meinen persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen möchte ich konkrete Vorschläge machen, wie das Fachwissen innerhalb der IV gestärkt und die Begleitung betroffener Personen verbessert werden kann.
1. Vertieftes Fachwissen und mehr Sensibilität für Autismus
IV-Expert*innen sollten ihr Wissen über Autismus – insbesondere über die oft unsichtbaren Bewältigungsstrategien wie Masking – deutlich vertiefen. Ein differenzierteres Verständnis dieser Dynamiken würde es ermöglichen, die tatsächlichen Herausforderungen besser zu erkennen und die Unterstützungsangebote gezielter und individueller zu gestalten.
2. Tiefgehende Gespräche führen
Im Rahmen der Begutachtung sollten IV-Expert*innen nicht davor zurückschrecken, auch tiefgehende Fragen zu stellen. Gerade bei Menschen, die Mühe haben, ihre Gefühle klar auszudrücken oder sich in belastenden Situationen zurechtzufinden, sind solche Gespräche entscheidend. Sie ermöglichen es, verborgene Belastungen und Bedürfnisse sichtbar zu machen, die für eine realitätsnahe und faire Beurteilung unerlässlich sind.
3. Enge Zusammenarbeit mit Haupttherapeut*in
Für eine fundierte und realitätsnahe Beurteilung ist die aktive Einbindung der behandelnden Fachperson – sei es eine Hausärztin, ein Therapeut oder eine andere spezialisierte Bezugsperson – unerlässlich. Diese kennt die betroffene Person meist am besten und kann wertvolle Einblicke in deren Alltag, Belastungen und Fortschritte geben. Eine enge Zusammenarbeit stellt sicher, dass Entscheidungen nicht auf Momentaufnahmen, sondern auf einem umfassenden Verständnis der individuellen Situation basieren.
4. Voreilige und ungeeignete Massnahmen vermeiden
Massnahmen zur beruflichen Wiedereingliederung sollten erst dann ergriffen werden, wenn eine sorgfältige Abklärung und eine angemessene Behandlung erfolgt sind. Übereilte oder unpassende Schritte können nicht nur wirkungslos bleiben, sondern im schlimmsten Fall zusätzlichen Schaden anrichten. Ein integrierter, ganzheitlicher Ansatz stellt sicher, dass die Stabilisierung der psychischen und physischen Gesundheit Vorrang hat – und schafft damit die Grundlage für eine nachhaltige und realistische Rückkehr ins Berufsleben.
5. Verfahren und Praktiken personalisieren und transparenter gestalten
Jede Person ist einzigartig – und sollte auch so behandelt werden. Standardisierte Verfahren greifen oft zu kurz und können den individuellen Bedarf der Versicherten übersehen. Die IV sollte daher einen stärker personalisierten und transparenten Ansatz verfolgen, bei dem jeder Fall sorgfältig analysiert und auf dieser Basis passgenaue Massnahmen entwickelt werden. Eine solche Herangehensweise würde nicht nur die Qualität der Unterstützung verbessern, sondern auch einen gezielteren und effizienteren Ressourceneinsatz ermöglichen.
Dank IV zurück ins Arbeitsleben – so gelingt die Wiedereingliederung von Autist*innen
Um die Wirksamkeit der IV – insbesondere bei komplexen Diagnosen wie Autismus – zu verbessern, braucht es einen respektvollen, individualisierten und kooperativen Ansatz. Wenn Therapeut*innen aktiv einbezogen, die richtigen Fragen gestellt und Interventionen gezielt angepasst werden, kann die IV eine deutlich menschlichere und wirksamere Begleitung bieten.
Massnahmen wie Kompetenzbilanz, Coaching und berufliche Wiedereingliederung sollten sich eng an den Empfehlungen der behandelnden Fachpersonen orientieren. Sie sollten auf einem verlässlichen Prozess beruhen – mit regelmässigen Terminen, kontinuierlichem Austausch und klaren Strukturen. Auch die frühzeitige Gewährung einer IV-Rente kann entscheidend sein: Sie schafft finanzielle Stabilität, die oft die Voraussetzung für eine nachhaltige Genesung und eine schrittweise Rückkehr ins Berufsleben ist.
Ein solcher Ansatz fördert nicht nur die Rückkehr zum inneren Gleichgewicht, sondern auch die Anerkennung der individuellen Lebensrealität der Versicherten. Eine empathische, verständnisvolle Begleitung ist der Schlüssel zu einer erfolgreichen und würdevollen Wiedereingliederung.
Fazit: Individuelle Begleitung und mehr Wissen über Autismus bei IV-Stelle als Schlüssel zur erfolgreichen Wiedereingliederung
Die IV kann eine wichtige Rolle bei der beruflichen Wiedereingliederung von Autist*innen spielen – vorausgesetzt, die Begleitung ist individuell, fachlich fundiert und respektvoll. Mein Erfahrungsbericht zeigt, dass es in der Praxis noch erhebliches Verbesserungspotenzial gibt. Eine stärkere Einbindung von Fachpersonen, mehr Wissen über Autismus und ein flexibleres Vorgehen könnten die Wirksamkeit der Massnahmen deutlich erhöhen.»
* Name der Redaktion bekannt
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