Die Invalidenversicherung: ein Risikofaktor für Armut

Diskriminiert und stigmatisiert. Vom politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben ausgeschlossen. Behinderungen erhöhen das Armutsrisiko. Eine nationale Politik zur Armutsbekämpfung liegt in weiter Ferne, obwohl die Bundesverfassung jeder in der Schweiz lebenden Person das Recht zuspricht, über genügend finanzielle Mittel zu verfügen, um eine angemessene Existenz zu führen. Wie weiter? Eine Analyse aus dem Jahr 2019  (Erstveröffentlichung in der Zeitschrift «Behinderung & Politik» 1/2019)  von Stéphane Rossini, alt Nationalrat, Spezialist für Sozialpolitik und seit Ende 2019 Direktor Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), die an Aktualität leider nichts eingebüsst hat.

Auf die bekannten Risiken reagieren, mit denen die Bevölkerung konfrontiert ist. Das ist die Aufgabe der Sozialpolitik. So hat die Schweiz anhand der Forderungen und demokratischen Diskussionen ein Massnahmenpaket entwickelt, um die Probleme zu lösen, die sich aus Invalidität, Krankheit, Unfall, Alter, Arbeitslosigkeit, Tod (Hinterlassene), Familie oder Armut ergeben. Die eidgenössischen Sozialversicherungen und die kantonalen Sozialhilfen erbringen Sach- und Geldleistungen, Ausgleichszahlungen oder Ersatzeinkünfte und unterstützen Massnahmen zur sozialen und beruflichen Integration.

In Anbetracht der Veränderungen der Lebensstile, der Produktionsmethoden, der neuen Bedürfnisse und Erwartungen der Bevölkerung, aber auch der angespannten Finanzlage, entwickeln sich die Sozialsysteme ständig. In welche Richtung die Aktivitäten gehen, hängt von den politischen Prioritäten und den Machtverhältnissen ab. Auch wenn das Schweizer System der sozialen Sicherheit als gut bezeichnet werden kann, bleiben doch grössere Probleme und Mängel. Das ist der Fall bei der Höhe der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenrenten.

Die Armut bleibt ein Tabu bei unseren Parlamentarier*innen.

Die institutionellen Grundlagen

Obwohl die Schweiz zu den reichsten Ländern der Welt gehört, bleibt sie nicht vor Armut verschont. Die eidgenössischen Sozialversicherungen, denken wir an die AHV im Kampf gegen die Armut älterer Menschen, die kantonalen und kommunalen Sozialhilfen oder die hunderten Non-Profit-Organisationen kümmern sich um das Schicksal benachteiligter Menschen.

Die Bundesverfassung hält in Art. 12 fest: «Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind.» Die Definition der Sozialziele in Art. 41 führt aus, dass sich Bund und Kantone dafür einsetzen, dass

  • jede Person an der sozialen Sicherheit teilhat
  • die für ihre Gesundheit notwendige Pflege erhält
  • Familien geschützt und gefördert werden
  • alle ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu angemessenen Bedingungen bestreiten können
  • alle eine angemessene Wohnung finden können
  • alle gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Invalidität, Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit, Mutterschaft, Verwaisung und Verwitwung gesichert sind.

Diese Verfassungsgrundlagen verankern wichtige politische Prinzipien. Bleibt zu konkretisieren, was sich nicht von selbst versteht.

Armut: ein Tabu

An den Zahlen gibt es nichts zu rütteln. Über 615’000 Menschen in der Schweiz sind von finanzieller Armut betroffen, d.h. 7,5% der Bevölkerung (Bundesamt für Statistik BFS). Sie sind mit den harten ideologischen Haltungen konfrontiert, die die seltenen politischen Diskussionen über die Armut charakterisieren. Seit fast 30 Jahren zeigen Studien und Statistiken, dass verschiedene Bevölkerungskategorien gefährdet sind: Menschen mit wenig Bildung, Langzeitarbeitslose, Einelternfamilien, Working Poor, migrierte Menschen, kleine Gewerbetreibende, Menschen mit Gesundheits- oder Suchtproblemen, Rentner*innen.

Die Armut existiert weiter, aber sie bleibt ein Tabu bei unseren Parlamentarier*innen. Bund und Kantone schieben sich gegenseitig den Ball zu und verzichten auf eine nationale Politik zur Armutsbekämpfung. Bundesrat Berset hat die Nationale Konferenz gegen Armut lanciert und damit seinen bescheidenen Spielraum ausgeschöpft, um dieses Problem zu priorisieren. Das Vorgehen ist zwar zu begrüssen, aber es ist unzureichend, weil die Kantone immer noch nicht fähig sind, eine gemeinsame Haltung einzunehmen und dynamische Massnahmen zu ergreifen. Bei den Sozialversicherungen, darunter die IV (und AHV), besitzt der Bund zwar wirkliche Kompetenzen, aber die politischen Mehrheiten fehlen, um die Höhe der Renten zu verbessern.

Das Existenzminimum

Die Erhöhung der Alters-, Hinterlassenen- und IV-Renten muss diskutiert werden. Gemäss Art. 112 der Bundesverfassung haben die Renten den Existenzbedarf angemessen zu decken. Diese Aussage ist zugleich klar («Existenzbedarf decken») und ambivalent («angemessen»). Die Ergänzungsleistungen tragen zu diesem Ziel bei.

2019 liegt die Höhe der AHV- und IV-Renten zwischen 1185 Franken pro Monat (Minimalrente) und 2370 Franken bei der Maximalrente (Einzelperson). Die jährlichen Beträge der Ergänzungsleistungen zur Deckung der Grundbedürfnisse liegen bei 19’450 Franken (Einzelpersonen) und 29’175 Franken (Paare). Mit Bezug auf andere Indikatoren wird die Armutsschwelle 2016 für eine Einzelperson auf 2247 Franken pro Monat geschätzt (BFS), d.h. auf 26’964 Franken pro Jahr. Die AHV- und IV-Renten, Ergänzungsleistungen inbegriffen, liegen darunter.

Person mit Sehbehinderung hält mit beiden Händen seinen weissen Stock.

Das Existenzminimum der Sozialhilfe für eine Einzelperson beträgt 986 Franken pro Monat, für zwei Personen 1509 Franken (SKOS-Norm). Das liegt deutlich tiefer als das AHV-Minimum und die vom BFS anerkannte Armutsschwelle. Die SKOS-Norm ist ein Bezugspunkt bei der Definition des Begriffs «Existenzbedarf», und ihr Einfluss auf das politische Umfeld ist nicht zu unterschätzen. Gewisse Kantone und Parteien erwägen übrigens, diese bereits extrem tiefen Schwellen noch zu senken.

Die Höhe der IV-Renten ist unzureichend und erzeugt unsichere Lebensverhältnisse.

IV-Rentner*innen

Über 250’000 Menschen beziehen eine IV-Rente. 2017 belief sich die Rente im Schnitt auf 1’433 Franken bei den Frauen und auf 1’498 Franken bei den Männern. Aufgrund des Existenzminimums erhalten über 114’000 Personen Ergänzungsleistungen, d.h. 46,7% der IV-Rentner*innen (2008: 36%). Diese Entwicklung im Lauf der Zeit ist markant und bringt die Verschlechterung des
Einkommens der IV-Rentner*innen zum Ausdruck.

Über die Gesamtzahl der IV-Beziehenden hinaus charakterisieren sehr ausgeprägte Unterschiede die verschiedenen Alterskategorien. Von den Rentenbeziehenden im Alter zwischen 22 und ca. 33 beziehen über 70% EL, bei denjenigen zwischen 34-35 und 40 sind es 60%. Die langfristigen Folgen sind besorgniserregend. Die Entwicklung der Situation bestätigt, dass die Höhe der IV-Renten unzureichend ist und unsichere Lebensverhältnisse erzeugt. Das könnte für die jüngsten Betroffenen zum Dauerzustand werden.

2012, bei der Präsentation der Ergebnisse der Wanner-Studie (BSV, 2012), die sich mit dem Einkommen der Rentenbeziehenden befasst (Steuerdaten), stellte der Bundesrat fest, dass die IV-Beziehenden zwar häufiger mit geringem Einkommen leben als die Gesamtbevölkerung, dass sie aber zum grossen Teil vor Armut geschützt sind. Invalidität ist also als Risikofaktor für Armut anerkannt. In den letzten Jahren hat nichts darauf hingedeutet, dass sich die Situation in eine andere Richtung entwickelt hätte, ganz im Gegenteil, wenn man die Entwicklung der EL- und IV-Zuerkennungen betrachtet.

Agile Konferenz November 2021 © Agile/Mark Henley

Renten erhöhen

Seit 2008 befindet sich die IV in einem umfassenden Entschuldungsprogramm, das noch ein gutes Dutzend Jahre dauern wird. Für Zehntausende Personen wurde der Zugang zu den Leistungen eingeschränkt, manche Leistungen wurden gestrichen. Der Druck auf Rentenbeziehende und Institutionen ist hoch. Sparmassnahmen sind mitunter sicher nötig, sollten aber nicht von Dauer sein, weil die sozialen Bedürfnisse sich wandeln. Die AHV-/BVG-Revision (Altersvorsorge 2020), die von den Stimmberechtigten im September 2017 abgelehnt wurde, sah eine Erhöhung der AHV-Renten vor. Anfang 2019 bekräftigen Gewerkschaftskreise diese Priorität. Es muss alles unternommen werden, damit die Armut unter unseren Rentenbeziehenden nicht neu erfunden wird, wie das in den 70er und 80er Jahren der Fall war.

Das Sozialsystem ist weit davon entfernt, ein Problem zu sein, wie seine Kritiker glauben machen wollen.

Ein voller Erfolg

Der Sozialstaat ist wirtschaftlich, sozial und politisch ein voller Erfolg, ein Garant für sozialen Zusammenhalt und Wohlstand. Es erlaubt den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die Konsumfähigkeit zu erhalten, um Konjunkturschwankungen und gesundheitliche oder altersbedingte Beeinträchtigungen aufzufangen. Es kann deshalb nicht angehen, dass das Sozialsystem Ursache von Not bzw. Armut sein soll. Die Schweiz hat die Mittel, es besser zu machen.

Stéphane Rossini
Stéphane Rossini, Direktor Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)

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