Zugang zu Sozialleistungen verbessern: Menschen mit Behinderungen berichten

Manche Menschen mit Behinderungen sind auf Sozialleistungen angewiesen – doch der Weg dorthin ist oft steinig. Viele treffen auf Hindernisse, wenn sie diese Leistungen beantragen und beziehen wollen. In diesem Beitrag erzählen Menschen mit Behinderungen, welche Hürden sie überwinden mussten, was ihnen geholfen hat und welche Unterstützung sie sich wünschen. Ihre Stimmen zeigen: Es braucht mehr als bessere Formulare und Richtlinien – es braucht Verständnis, Barrierefreiheit und echte Teilhabe.

Inhalt

Die hier vorgestellten Erfahrungen spiegeln eine Auswahl von Rückmeldungen wider, die im Rahmen einer Befragung von Agile gesammelt wurden. Sie geben exemplarische Einblicke in persönliche Erlebnisse und Lösungsansätze. Viele weitere Hinweise, Tipps und Empfehlungen fliessen in einen umfassenden Leitfaden für barrierefreie Verwaltung ein, den Agile aktuell gemeinsam mit Menschen mit Behinderungen erarbeitet.

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Unterstützung innerhalb der Behörden

Eine verständnisvolle und hilfsbereite Ansprechperson bei der Ausgleichskasse oder eine rasche, kompetente Unterstützung durch die IV – das empfinden viele Menschen mit Behinderungen als besonders wertvoll.

«Ich bin auf Offenheit und Bedürfnisorientierung innerhalb der Richtlinien bei der IV gestossen.»

Auch die Art der Kommunikation spielt eine Rolle. Einige Personen bevorzugen den Kontakt per E-Mail statt über die klassische Briefpost.

«Für mich war es hilfreich, dass die IV-Beraterin auch meine private Situation anerkannt und nicht nur auf die Arbeit fokussiert hat.»

Diese persönlichen Erfahrungen zeigen: Es sind oft die kleinen, menschlichen Gesten und die Bereitschaft zuzuhören, die den Zugang zu Sozialleistungen erleichtern.

Erfahrungsbericht: berufliche Wiedereingliederung mit IV bei Autismus

Eine Autistin berichtet über ihre Erfahrungen mit der IV und macht konkrete Vorschläge zur Verbesserung des Systems. 

Durch Menschen mit Behinderungen geschulte Behördenmitarbeitende

Einige Personen betonen, wie wichtig es sei, dass IV-Mitarbeitende durch Menschen mit Behinderungen geschult würden. Solche Schulungen würden es den Behörden ermöglichen, die Lebensrealität von Menschen mit Behinderungen besser zu verstehen – ebenso wie die Inhalte der UNO-Behindertenrechtskonvention.

Im Kanton Waadt, so wird berichtet, habe es bereits entsprechende Schulungen gegeben. Diese hätten sich direkt positiv auf die Abläufe und den Umgang der Behörden mit Menschen mit Behinderungen ausgewirkt.

Barrierefreiheit beginnt bei der Information

Für Menschen mit Sehbehinderung sind barrierefreie Webseiten, Formulare und Online-Portale der Behörden unverzichtbar. Doch diese Barrierefreiheit ist noch längst nicht überall gegeben: Je nach Kanton gibt es Webseiten, die entweder nicht zugänglich oder so kompliziert aufgebaut sind, dass es schwierig ist, die benötigten Informationen oder Formulare zu finden.

Gleichzeitig berichten mehrere Personen, dass sie auch auf positive Beispiele gestossen sind – etwa auf barrierefreie Dokumente und Formulare, die sie als besonders hilfreich empfanden.

Als weitere Unterstützung werden Informationen in Einfacher Sprache sowie barrierefreie Erklärvideos genannt. Diese erleichtern das Verständnis und fördern die Selbstständigkeit beim Beantragen von Leistungen.

Unterstützung durch Behinderten- und Selbsthilfeorganisationen

Viele Menschen mit Behinderungen berichten, dass sie besonders ausserhalb der zuständigen Behörden hilfreiche Unterstützung erhalten – etwa im persönlichen Umfeld, bei medizinischen Fachpersonen, Therapeut*innen oder Assistenzpersonen.

Eine zentrale Rolle spielen dabei Behinderten- und Interessenvertretungsorganisationen. Diese helfen nicht nur beim Ausfüllen von Anträgen, sondern beraten auch bei rechtlichen Fragen – etwa bei der Prüfung von IV-Verfügungen oder bei Neubeurteilungen.

Ein Beispiel für ganz praktische Hilfe: Eine Organisation stellte eine barrierefreie Excel-Tabelle zur Verfügung, mit der eine Person die Lohnabrechnung ihrer Assistenzperson erstellen konnte.

Mehrere Personen empfehlen ausdrücklich, sich frühzeitig an solche Fachstellen zu wenden. Genannt werden unter anderem:

  • Pro Infirmis
  • Procap
  • Inclusion Handicap
  • Pro Mente Sana

Auch spezialisierte Beratungsstellen und Verbände für bestimmte Behinderungsarten werden als hilfreich genannt, darunter:

  • der Schweizerische Blindenbund und dessen Beratungsstelle Sichtbar
  • der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV)
  • Obvita
  • Retina Suisse

Tipps für die Kommunikation mit Behörden

Mehrere Personen berichten, dass es hilfreich sei, mit der IV auf einer «geschäftlichen Ebene» zu kommunizieren – also nicht als Einzelperson, sondern über eine Organisation oder Institution, die als Absenderin der Korrespondenz auftritt.

Eine Sozialarbeiterin, die selbst aufgrund einer Behinderung Leistungen beantragen musste, beschreibt ihre Erfahrung so:

«Als Sozialarbeiterin habe ich zwar selbst oft Klient*innen dabei unterstützt, Anträge auszufüllen. Es ist aber sehr schwierig, für sich selbst einen Antrag zu stellen, denn dies kommt bei den Versicherungen nicht gleich seriös an.»

Sie empfiehlt deshalb: «Unbedingt von Anfang an eine Fachperson beiziehen.»

Denn: «Oft überschätzen wir unsere Fähigkeiten oder drücken uns falsch aus.»

Auch andere teilen diese Einschätzung. Sie raten davon ab, als Privatperson selbst einen Antrag zu verfassen. Stattdessen solle man sich an spezialisierte Fachstellen wenden – zum Beispiel an die Schweizerische Fachstelle für Sehbehinderte im beruflichen Umfeld (SIBU). Diese verfügten über standardisierte Vorlagen und wüssten genau, wie mit den Sozialversicherungen, insbesondere der IV, kommuniziert werden müsse.

Ein Hinweis aus der Praxis: Wenn man selbst gegenüber den Versicherungen etwas «Ungünstiges» schreibe, könne es womöglich nicht mehr so leicht korrigiert werden.

Rechtsschutz und juristischer Rat ausserhalb von Behindertenorganisationen

Mehrere Personen empfehlen, frühzeitig eine Rechtsschutzversicherung abzuschliessen – und diese auch dann beizubehalten, wenn sie nur selten benötigt wird.

Solche Versicherungen können entscheidend sein, wenn es zu Konflikten mit der IV kommt – etwa bei drohender Rentenkürzung oder -streichung.

Ein Beispiel aus den Rückmeldungen: Eine Person wandte sich an den K-Tipp, um juristischen Rat einzuholen. Sie hatte nach der Beantragung eines Rollstuhls monatelang auf eine Antwort der IV gewartet und war aufgrund ihrer eingeschränkten Mobilität zunehmend verzweifelt. Nach der rechtlichen Intervention erhielt sie sehr rasch eine Kostengutsprache von der IV.

Unterstützung durch andere Menschen mit Behinderungen – Peer-Beratung

Mehrere Personen betonen, wie wichtig der Austausch mit anderen Menschen mit Behinderungen ist – insbesondere mit jenen, die selbst bereits Erfahrungen mit dem Beantragen oder dem Bezug von Sozialleistungen gemacht haben.

Besonders hilfreich sei es, mit Personen zu sprechen, die beispielsweise selbst einen Assistenzbeitrag beziehen und über das konkrete Vorgehen informieren können. In einigen Fällen wurde die Unterstützung durch sogenannte Peers sogar als hilfreicher empfunden als die Beratung durch Organisationen, in denen kein persönliches Erfahrungswissen vorhanden war.

Ein praktischer Hinweis aus den Rückmeldungen:

«Erarbeiten Sie sich ein soziales Netz von Peers, mit denen Sie Erfahrungen, Tipps und Tricks zu Ihrer spezifischen Situation austauschen können.»

Barrieren bei Sozialleistungen durch Peer-Beratung abbauen

Peer-Beratung kann dazu beitragen, Barrieren bei Sozialleistungen abzubauen. Eine IV-Stelle und zwei Berater*innen berichten über Erfahrungen und Good Practices.

Eigene Kenntnisse und Voraussetzungen für den Umgang mit den Sozialleistungen

Neben externer Unterstützung spielen auch persönliche Voraussetzungen eine wichtige Rolle beim Beantragen oder Beziehen von Sozialleistungen. Dazu gehören unter anderem rechtliches Grundwissen und die Fähigkeit, Informationen zu recherchieren – etwa um Formulare und Vorschriften richtig zu verstehen.

Es reicht nicht aus, wenn Behörden Informationen nur in Einfacher Sprache oder barrierefrei zur Verfügung stellen. Besonders bei komplexen Übergängen – etwa beim Auszug aus einem Heim und dem Wechsel in ein Leben mit Assistenzbeitrag – ist eine gute Vorbereitung entscheidend. Dazu gehört, die Finanzierung zu klären und den Übergang sorgfältig zu planen.

Mehrere Personen betonen, wie viel innere Stärke es braucht, um sich im System zurechtzufinden:

«Es braucht Kraft, Ausdauer, Hartnäckigkeit, Geduld und auch Mut, um die Leistungen zu beantragen oder zu beziehen.»

Man solle sich nicht entmutigen lassen, auch bei Rückschlägen nicht aufgeben und keine Angst vor Absagen haben. Wichtig sei es, sich zu wehren, wenn nötig unbequem zu sein – und:

«Die Klappe aufzumachen, dranzubleiben und sich auch nicht zu schämen.»

Fazit: Was den Zugang zu Sozialleistungen erleichtert

Der Zugang zu Sozialleistungen ist für viele Menschen mit Behinderungen nach wie vor mit zahlreichen Hürden verbunden – sei es durch komplexe Antragsverfahren, mangelnde Barrierefreiheit oder fehlende Unterstützung.

Die Rückmeldungen zeigen jedoch auch: Es gibt konkrete Wege, diese Barrieren zu verringern. Dazu gehören:

  • geschulte Mitarbeitende in den Behörden,
  • barrierefreie Informationen und Kommunikation,
  • Unterstützung durch Behindertenorganisationen,
  • juristische Beratung,
  • und vor allem der Austausch mit anderen Menschen mit Behinderungen.

Was es braucht, ist ein Zusammenspiel aus strukturellen Verbesserungen und individueller Unterstützung – damit Menschen mit Behinderungen nicht länger kämpfen müssen, um zu ihren Rechten zu kommen.

Ausblick: Mehr Erfahrungen im Leitfaden für barrierefreie Verwaltung

Die in diesem Beitrag geschilderten Erfahrungen zeigen exemplarisch, wie unterschiedlich der Zugang zu Sozialleistungen verlaufen kann – und was dabei hilft. Sie bilden jedoch nur einen Teil der Rückmeldungen ab, die Agile gesammelt hat.

Aktuell entsteht ein umfassender Leitfaden, der viele weitere Tipps, Empfehlungen und Stimmen von Menschen mit Behinderungen enthält. Ziel ist es, daraus ein praxisnahes Werkzeug zu machen – für Behörden, Fachpersonen und alle, die gemeinsam Barrieren abbauen wollen.

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