Barrieren bei Sozialleistungen durch Peer-Beratung abbauen

Grafik mit dem Titel «Peer-Beratung». Eine Brücke symbolisiert das Abbauen von Hindernissen durch Peer-Beratung. Unter der Brücke befinden sich drei kreisförmige Porträts mit Namen und Rollen. Saphir Ben Dakon, freiwillige Peer-Beraterin mit langjähriger Erfahrung. Uwe Bening, Recovery- und Peer-Berater der IV-Stelle Graubünden. Thomas Pfiffner, Leiter der IV-Stelle Graubünden.
Grafik mit dem Titel «Peer-Beratung». Eine Brücke symbolisiert das Abbauen von Hindernissen durch Peer-Beratung. Unter der Brücke befinden sich drei kreisförmige Porträts mit Namen und Rollen. Saphir Ben Dakon, freiwillige Peer-Beraterin mit langjähriger Erfahrung. Uwe Bening, Recovery- und Peer-Berater der IV-Stelle Graubünden. Thomas Pfiffner, Leiter der IV-Stelle Graubünden.

Menschen mit Behinderungen und/oder Krankheitserfahrungen benötigen häufig Leistungen des Sozialsystems, um ihre Existenz zu sichern, selbstbestimmt und in Würde zu leben oder an der Gesellschaft teilhaben zu können. Als Dachverband der Selbsthilfe- und Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen in der Schweiz weiss Agile, dass der Zugang zu solchen Leistungen nicht immer einfach ist. Personen, die auf Unterstützung angewiesen sind, sind häufig mit den unterschiedlichsten Hürden im Sozialwesen konfrontiert. Peer-Beratung durch andere Betroffene kann dabei helfen, Barrieren abzubauen.

Inhalt

Hindernisse durch Peer-Beratung abbauen

Barrieren im Sozialwesen lassen sich auf verschiedene Arten abbauen. Eine davon ist der Einsatz von Peer-Berater*innen. Diese verfügen über eigene, reflektierte Erfahrungen – zum Beispiel mit Behinderungen, Erkrankungen und Krisen. Dabei haben sie  Strategien entwickelt, um selbstbestimmt mit diesen Herausforderungen umzugehen. Peer-Berater*innen kennen ihre Stärken, erkennen ihre Potenziale und nutzen ihren Handlungsspielraum aktiv. So gestalten sie ihr Leben aktiv und eigenverantwortlich. Als ausgebildete Peers setzen sie ihr professionalisiertes Erfahrungswissen gezielt ein: Sie beraten, begleiten oder coachen Menschen in ähnlichen Lebenslagen. Zudem bauen sie Brücken zwischen Nutzer*innen und Anbieter*innen sozialer Dienstleistungen. Ihre Tätigkeit üben sie in der Regel als bezahlte Mitarbeiter*innen in einem professionellen Kontext oder auch als freiwillige Berater*innen aus.

Peer-Beratung in der Schweiz

In der Schweiz war der Peer-Ansatz lange Zeit vor allem im Psychiatriekontext verbreitet. Noch selten, aber immer öfter wird sein Potenzial auch in anderen Bereichen erkannt und genutzt – so auch von Behörden, die Sozialleistungen wie zum Beispiel IV-Leistungen oder Sozialhilfe ausrichten. Dazu gehört zum Beispiel die IV-Stelle Graubünden, die in der Schweiz als Vorreiterin im Hinblick auf die Anstellung von Recovery- und Peer-Beratenden im Bereich der beruflichen Eingliederung gilt. Aktuell beschäftigt sie zwei entsprechende Mitarbeiter mit je einem 40%-Pensum. In Chur ist die Recovery-Haltung somit zu einem festen Bestandteil in den jeweiligen Teams und damit in der Eingliederungstätigkeit geworden.

Weshalb kann Peer-Beratung sinnvoll sein, wenn es um das Beantragen oder den Bezug von Sozialleistungen geht? Was bewirkt sie und unter welchen Voraussetzungen kann sie erfolgreich sein? Dazu gibt nachfolgend Saphir Ben Dakon Auskunft, Vizepräsidentin von Agile mit langjähriger Erfahrung als freiwillige Peer-Beraterin. Ausserdem berichten ein Recovery- und Peer-Berater der IV-Stelle Graubünden, Uwe Bening, und der Leiter der IV-Stelle, Thomas Pfiffner, über Erfahrungen, Erkenntnisse und Good Practices.

Recovery-Ansatz: Der Recovery-Ansatz ist ein gesundheitsorientierter, menschenrechtsbasierter Ansatz im Bereich der psychischen Gesundheit. Er umfasst die individuellen Genesungsprozesse von Menschen in Richtung eines sinnerfüllten und selbstbestimmten Lebens. Im Mittelpunkt stehen die Stärken sowie die Genesungs- und Selbsthilfepotenziale einer Person. Ziel ist es, Vertrauen und innere Balance zu gewinnen. Das bedeutet in der eigenen Lebendigkeit eine gute Regulationsfähigkeit zu entwickeln. Zwangsmassnahmen sind auf dieser Grundlage nicht mehr möglich (siehe zum Beispiel Richter, 2022, WHO, 2021, Pro Mente Sana, 2016, Pro Mente Sana 2019).

Der Recovery-Ansatz macht das reflektierte Erfahrungswissen von Gesundungsprozessen in den Versorgungsstrukturen nutzbar. Diese Idee war der Ursprung der ExIn-Weiterbildung (Experienced Involvement). Dieses europäische Pilotprojekt zur Qualifizierung von Peers startete 2006.

Auch Inklusion und die gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft sind Kernanliegen des Recovery-Ansatzes. Alle Menschen sollen sich in ihrer Individualität in der Gesellschaft zugehörig fühlen und akzeptiert werden.


 

Hindernisse im System der sozialen Sicherheit

Gesellschaftliche Vorurteile

Saphir Ben Dakon hat schon viele Menschen mit Behinderungen im privaten Kontext begleitet. Viele von ihnen beantragten keine oder nicht alle ihnen zustehenden Sozialleistungen. Das habe unter anderem damit zu tun, dass Menschen mit Behinderungen oft schon früh das Gefühl bekämen, sie hätten die Leistungen nicht verdient. In den Medien oder im privaten Umfeld lesen und hören sie immer wieder Sätze wie: «Die sollen mal nicht so tun, früher mussten wir es auch noch selbst bezahlen», oder: «Ich habe es auch ohne Hilfe geschafft». Als Mensch mit Behinderungen sei man sich solche ableistischen Aussagen gewohnt – Saphir Ben Dakon spricht aus eigener Erfahrung. Viele Menschen mit Behinderungen hätten das Gefühl, dass Behinderung ihr individuelles Schicksal sei. Die persönliche Ebene sei aber nur eine Komponente ihrer Lebensrealität. Viele Schwierigkeiten seien gesellschaftlich verursacht und deshalb auch auf dieser Ebene anzugehen.

Misstrauen gegenüber zuständigen Stellen

Laut Saphir Ben Dakon würden viele Personen auch nicht darauf vertrauen, dass ihnen bei den zuständigen Stellen wirklich geholfen werde. Vielmehr hätten sie Angst, dass sie im Sozialversicherungssystem auf irgendeine Art und Weise bestraft würden. So befürchteten zum Beispiel Personen, die persönliche Assistenz benötigen, dass ihnen die Hilflosenentschädigung (HE) gekürzt würde, wenn sie bei der IV einen Assistenzbeitrag beantragen würden. Dies, obwohl die HE Voraussetzung für den Assistenzbeitrag sei und nur gekürzt werden könne, wenn sich die «Hilflosigkeit» verringern würde. Einen Assistenzbeitrag erhält eine Person nur, wenn sie zusätzliche und vor allem gezieltere personelle Unterstützung benötige, um ein selbstbestimmtes Leben ausserhalb einer Institution führen zu können.

Komplexe Antragsverfahren

Wer sich dann doch entscheidet, Hilfe zu beanspruchen, trifft oft schnell auf weitere Hürden. Dazu gehören die häufig sehr komplexen Antragsverfahren. Viele verstünden beispielsweise die Formulare nicht und es fehlten ihnen die nötigen Kenntnisse über das Sozialversicherungssystem. Thomas Pfiffner, Leiter der IV-Stelle Graubünden, bestätigt, dass die Formulare, die Prozesse und die Sprache, der für die Ausrichtung von Sozialleistungen zuständigen Stellen, sehr komplex seien – teilweise sogar für Fachpersonen, die sich täglich mit solchen Themen beschäftigten. Im Fokus stünden primär die juristische Vollständigkeit und Korrektheit, und erst sekundär die allgemeine Verständlichkeit.

Zwar gebe es auch die Sozialberatungen von Behindertenorganisationen, die zum Beispiel bei Antragsverfahren unterstützen können, wie Thomas Pfiffner erklärt. Laut Saphir Ben Dakon sei der Zugang zu diesen Beratungen – vor allem wenn sie kostenpflichtig sind – aber relativ hochschwellig: Wer sie nicht selbst bezahlen könne, müsse diese bei den IV-Stellen beantragen, was sehr umständlich sein könne.

Barrieren bei Behindertenorganisationen

Gleichzeitig hätten manche Personen auch Angst vor Behindertenorganisationen. Dies hänge unter anderem damit zusammen, dass die Beratungen in der Regel von Fachpersonen ohne eigene Erfahrungen mit Behinderungen durchgeführt würden. Auch wenn es Menschen gebe, die sich in der Beratung von solchen Organisationen gut unterstützt fühlten und sich die Organisationen je nach Kanton unterscheiden: Saphir Ben Dakon höre immer wieder, dass sich Personen, die sich an solche Stellen wenden, «von oben herab» behandelt und unter Druck gesetzt fühlten. So appelliere man zum Beispiel bei Personen, die nicht wissen, wie ein Assistenzbeitrag beantragt werde, häufig an ihre Selbsthilfe- oder Selbstbestimmungspotenziale: Sie würden gefragt, was sie schon selbst gemacht und versucht hätten. Dabei werde nicht berücksichtigt, wo die Leute herkämen, was sie erlebt hätten, was alles «sonst noch los ist bei ihnen» und was die Gründe dafür sind, dass sie noch nicht handeln konnten. Saphir Ben Dakon unterstütze diese Personen daher mindestens zu Beginn beim Ausfüllen von Formularen, so dass sie es danach allein machen können. Die Frage nach ihren Selbsthilfe- oder Selbstbestimmungspotenzialen stelle auch sie, aber auf eine Weise, bei der sich Menschen nicht herabgesetzt fühlten.

Kommunikationsprobleme und mangelndes Wissen über Behinderungen

Auch im Kontext der IV bestünden oft Kommunikationsprobleme. Saphir Ben Dakon berichtet, dass ihr Personen mit nicht sichtbaren Behinderungen – etwa Menschen mit kognitiven oder psychosozialen Behinderungen oder neurodivergente Personen – zurückgemeldet hätten, dass sie ihre IV-Berater*innen nicht verstanden hätten, während diese wiederum nicht erkannt hätten, dass sie nicht verstanden wurden. Bei der IV fehle oft das Wissen über die Hintergründe der jeweiligen Personen oder die Kompetenzen, mit ihnen zu kommunizieren. Vielen Menschen sehe man die Behinderung oder Erkrankung auch nicht an. Diese müssen dann immer wieder von Neuem erklären und beweisen, wofür sie Unterstützung benötigten – auch deshalb, weil die Berater*innen aufgrund der hohen Fluktuation bei den Fachstellen oft wechseln und dadurch viel wertvolles Wissen verloren gehe.

Haltung gegenüber psychisch kranken Menschen

Thomas Pfiffner und Uwe Bening erwähnen auch, dass Fachpersonen unter Umständen dazu neigen können, den Nutzer*innen ihrer Dienstleistungen mit einer autoritären Haltung zu begegnen. Pfiffner, der vor seiner Tätigkeit bei der IV im Psychiatriebereich tätig war, hörte bei seinem Stellenantritt bei der IV von Mitarbeitenden manchmal sagen: «Der ist psychisch», oder: «Das ist ein psychischer Fall». Es seien einfach alle «in einen Riesentopf» geworfen worden. Für ihn seien solche undifferenzierten Bemerkungen nicht akzeptabel. Heute, 10 Jahre später, erlebe er ein deutlich differenzierteres und kompetenteres Verständnis von psychischer Gesundheit in seiner IV-Stelle.

Uwe Bening ist seit 2023 bei der IV-Stelle in Chur angestellt und hat langjährige Erfahrungen als Recovery-Experte im Kontext der psychischen Gesundheit und als Dozent in Peer-Weiterbildungen. Er verweist darauf, dass auch im Psychiatriekontext Hürden bestünden. Die Psychiatrie basiere seit 130 Jahren auf Theorien, die kaum hinterfragt würden. Diese fokussierten primär auf das Gehirn des Menschen und auf die Idee, dass psychische Erkrankungen eine Hirnstoffwechselstörung seien, die mit Medikamenten reguliert werden könnten. Auch wenn es deutliche Hinweise gebe, dass andere Faktoren einen viel stärkeren Einfluss auf die Psyche des Menschen hätten, würde diese traditionelle Sichtweise kaum hinterfragt. Die Ärzteschaft wolle die Leute wieder «zum Funktionieren» bringen. Sie blenden häufig die komplexen Wechselwirkungen aus, die die Disbalance hervorbringen und verstärken.

Herausforderungen im psychiatrischen Kontext

Viele Menschen, die sich in einer psychischen Instabilität befänden, fühlten sich Psychiater*innen ausgeliefert. Immer wieder höre man den Satz: «Meinem Psychiater erzähle ich nicht, wie es mir wirklich geht». Laut Thomas Pfiffner, der vor Jahren auch als Psychiatriepflegefachmann gearbeitet hat, hätten die betroffenen Personen oft Angst, dass die Psychiater*innen ihre Medikation änderten oder anderweitig über sie bestimmten. Auch gemäss Uwe Bening erlebten viele Menschen mit Krisenerfahrungen, dass sie einer Autorität ausgeliefert seien. Statt Würdigung und Wertschätzung erlebten sie Beschämung, Demütigung und Grenzüberschreitungen. Gleichzeitig hätten viele Menschen bereits in ihrer Vergangenheit – auch im privaten Bereich – negative Erfahrungen mit Autoritäten und Grenzüberschreitungen gemacht. Das hinterlasse Spuren und bilde Muster (zum Beispiel des «Sich-ausgeliefert-Fühlens»), die später zum Beispiel im Arbeitskontext wieder aktiviert werden können und die es zu durchbrechen gelte. Medikamente versuchen Symptome zu beseitigen und haben nicht selten unerwünschte oder destabilisierende Wirkungen.

Vielfältige Potenziale der Peer-Beratung

Vor diesem Hintergrund kann die Peer-Beratung auf verschiedenen Ebenen ansetzen: Saphir Ben Dakon unterstützt als Peer-Beraterin Menschen mit Behinderungen und/oder Erkrankungen, die sich in ihrer Lebenssituation oft hilf- und machtlos fühlen. Ihr Ziel sei es, dass sie sich zuerst auf der persönlichen Ebene stabilisieren und sich dann selbst «empowern» können. Sie sollen einen nachhaltigen Lebensentwurf und ein gutes Umfeld für sich selbst schaffen können. Wichtig sei, dass sie zur inneren Überzeugung gelangen, ihre Situation gut meistern, ihre Ziele erreichen und ihre Träume verwirklichen zu können – und dadurch Selbstwirksamkeit erfahren.

Den eigenen Handlungsspielraum erkennen

Auf gesellschaftlicher Ebene gibt es viele Hindernisse und Grenzen, für deren Entstehen die betreffenden Personen keine Verantwortung tragen und an denen sie nichts oder nicht sofort etwas ändern können. Als Mensch mit Behinderungen ist es Saphir Ben Dakon wichtig, diese Hindernisse und Grenzen zu erkennen, um dann zu sehen, wo man einen Handlungsspielraum hat. Dieser Handlungsspielraum möge zwar klein, aber doch sehr wichtig sein. Eine Möglichkeit, den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern, bestehe darin, den Zugang zu staatlicher Unterstützung zu finden und Hilfsmittel oder persönliche Assistenz zu beanspruchen. Saphir Ben Dakon kennt es aus eigener Erfahrung: Oft brauche es einen externen Input, damit man es wage, die nötigen Anträge auszufüllen und Leistungen zu beziehen. Immer wieder begegne sie Personen, die zum Beispiel schon seit Jahren Anspruch auf einen Assistenzbeitrag hätten. Erst durch die Peer-Beratung seien sie aber darauf aufmerksam geworden und konnten aktiv werden. Die Peer-Berater*innen können also eine Art Brücke bilden zwischen der Lebensrealität der Personen, die sie beraten, und dem – hochschwelligen, komplexen – Sozialsystem, dem Menschen mit Behinderungen oder Erkrankungen oft auch misstrauisch gegenüberstünden.

Dank Peer-Beratung Vertrauen aufbauen

Das bestätigen auch Uwe Bening und Thomas Pfiffner. Viele Menschen seien misstrauisch gegenüber der IV oder hätten Angst, was kontraproduktiv sei. Menschen, die «irgendwie aus der Bahn geworfen» sind und Erschütterungen in ihrem Leben erfahren haben, sollten darauf vertrauen können, dass ihnen die IV helfen würde und sie von der IV mindestens ein Stück finanzielle Sicherheit erhalten und dabei unterstützt werden, wieder stabiler zu werden. Die Recovery- und Peer-Berater in Chur helfen den versicherten Personen dabei, zu erkennen, dass sie Autoritäten – und damit auch der IV – nicht hilflos ausgeliefert seien. In Chur sei dann auch sehr positiv aufgefallen, dass Personen, die von Peers beraten werden, sich schneller öffneten, wieder Vertrauen aufbauten, vorwärtsschauten und in Bewegung, «ins Handeln» kommen konnten.

Fokus auf gesunde Anteile und Selbstwirksamkeit

Je nach individuellen Hintergründen können der Weg dahin und die verwendeten Methoden unterschiedlich sein. Uwe Bening, selbst Psychologe und mit eigener Psychiatrieerfahrung, berichtet von Personen, bei denen sich die Situation verschlechtert habe, nachdem sie eine psychiatrische Diagnose erhielten und ihnen Medikamente verschrieben worden seien. Eine Diagnose sei für viele Personen etwas Beschämendes. Die Botschaft sei: «Du funktionierst nicht mehr richtig, du tickst nicht richtig». Im Gegensatz dazu liege der Fokus der Recovery- und Peer-Beratung auf den gesunden Anteilen einer Person. Oft gehe es darum, die Person zu würdigen, zu wertschätzen und auch zu zeigen, wie das Wechselspiel zwischen Wahrnehmen, Fühlen und Denken sich gestaltet und wie man sich selbst von einer hohen Aktivierung (Stress, Erwartungen, Gedanken wie «ich muss, ich muss …» etc.) wieder in ein Gleichgewicht bringen könne. Die Personen, die Bening berät, sollen erkennen, welche Impulse sie sich selbst geben können. Sie lernen beispielsweise, die eigenen Grenzen gegenüber anderen Personen aufzuzeigen, damit diese nicht immer wieder verletzt würden. Sie sollen erkennen, welche Entscheidungs-, Mitwirkungs- und Handlungsmöglichkeiten sie hätten und welche Verantwortung sie für den eigenen Gesundungsweg übernehmen können.

Positive Impulse für neue Wege

Ziel kann es aber auch sein, dass Peer-Berater*innen einer Person den Impuls geben, etwas Neues auszuprobieren – zum Beispiel dann, wenn diese es nicht wage, sich ihrem Arzt zu öffnen oder wenn eine Therapie aus bestimmten Gründen nicht fruchte. Laut Thomas Pfiffner könne das auch für die IV einen Mehrwert haben. Denn diese sei daran interessiert, dass die Versicherten eine wirksame Behandlung erhielten – unter anderem, um wieder am Arbeits- oder gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können.

Die Rückmeldungen der Personen, die bisher von Peers beraten wurden, sind durchwegs positiv – das bestätigen alle befragten Personen. Thomas Pfiffner spricht auch aus seiner Erfahrung als Leiter einer psychiatrischen Klinik. Mehrfach hätten Patient*innen ihm gesagt: «Mir hat das Gespräch mit meinem Peer-Berater mehr geholfen als das mit meinem Psychiater».

Mehrwert für Fachstellen und Fachpersonen

Vom Einsatz von Peer-Berater*innen profitieren auch die Stellen, die für die Ausrichtung der Sozialleistungen oder die Wiedereingliederung zuständig sind. Saphir Ben Dakon verweist auf die Vermittlungsmöglichkeiten zwischen den beratenen Personen und den Fachpersonen ohne entsprechendes Erfahrungswissen. Letztere profitierten, da sie die Anliegen der jeweiligen Personen besser verstehen und direkter mit ihnen kommunizieren können. Dadurch hätten sie keinen Informationsverlust und seien effizienter.

Weiterentwicklung der IV-Stelle

Bei den Mitarbeitenden der IV-Stelle Graubünden habe die Peer-Arbeit respektive die Recovery-Orientierung zu einer Weiterentwicklung der Eingliederungsberater*innen, aber auch zu einer Haltungsänderung geführt. Die Unternehmenskultur habe sich geändert – die Empathie gegenüber den versicherten Personen habe zugenommen. Mitarbeitende seien sich ihrer eigenen Wirkung mehr bewusst. Sie reflektierten zum Beispiel ihre eigene Arbeit vermehrt selbstkritisch und betrachteten die versicherten Personen und ihre Hintergründe differenzierter. Ausserdem hätten sie «massiv Knowhow aufgebaut», was man auch an konkreten Entscheiden merke. Das heisse nicht, dass sie «grosszügiger» seien als andere IV-Stellen. Sie wenden genauso wie andere die Gesetze an – aber sie seien vielleicht in gewissen Fällen etwas kreativer.

In Chur wird das Wissen der Recovery- und Peer-Berater auch auf Management-Ebene einbezogen und zum Beispiel für die Weiterentwicklung von Strukturen, Prozessen und Konzepten genutzt. Ausserdem hätten Peer-Mitarbeiter auch schon Arbeitgebende zum Umgang mit Mitarbeitenden mit psychischen Problemen beraten – ein Angebot, das auf grosses Interesse stosse und weiter ausgebaut werden solle.

Peer-Beratung gelingt nur unter bestimmten Voraussetzungen

Peer-Beratung kann also auf verschiedenen Ebenen dazu beitragen, Hindernisse abzubauen und etwas in Bewegung zu bringen. Und doch fristet sie in der Schweiz – vor allem ausserhalb des Psychiatriekontexts – noch ein Nischendasein. Das mag unterschiedliche Gründe haben. Dazu gehört, dass die Peer-Arbeit sehr anspruchsvoll ist und verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein müssen, wenn sie professionell genutzt werden soll. So müssen sich Peer-Berater*innen weiterbilden und ihre eigene Geschichte und ihr Verhalten reflektieren können. Sie müssen ausserdem lernen, nicht nur das Eigene zu sehen, sondern auch die Vielstimmigkeit und Unterschiedlichkeit von Erfahrungen.

Grenzen der Peer-Beratung

Für Saphir Ben Dakon ist es auch zentral zu wissen, welches Fachwissen sie als Peer habe und wo dessen Grenzen seien. Man dürfe nicht versuchen, anderen den «eigenen Frame aufzustülpen». Auch die Hinterfragung und Verarbeitung eigener Traumata sei sehr wichtig. Es dürfe nicht passieren, dass man als Peer versuche, diese über eine andere Person zu lösen. Es bestehe das Risiko, zu denken, dass man dann noch einen weiteren Leidensgenossen habe, der es genauso wie man selbst sehe. Dadurch würden Abhängigkeitsverhältnisse geschaffen, die es unbedingt zu vermeiden gelte.

Peer-Beratung ist Sozialberatung, Begleitung und Vermittlung

Im professionellen Kontext wird das Potenzial der Peer-Beratung auch nicht immer sofort erkannt. Bei einer Peer-Anstellung gäbe es gemäss Thomas Pfiffner teilweise auch Widerstand von anderen Berufsgruppen. Diese befürchteten zum Beispiel, dass sie sich noch um eine Patientin oder einen Klienten mehr kümmern müssen oder dass Peer-Beratende in ihr Kompetenzgebiet eindringen würden – Befürchtungen, die sich meist schnell als unbegründet erweisen würden. Diese seien aber umso grösser, je weniger klar die Rollen und Anforderungsprofile von Peer-Mitarbeitenden definiert und kommuniziert würden. Gemäss Saphir Ben Dakon müssen die Grenzen der Peer-Beratung auch gegenüber anderen Berufsgruppen klar aufgezeigt werden: Sie führten keine psychiatrische Behandlung oder keine medizinische Beratung durch. Es handle sich um Sozialberatung, Begleitung und Vermittlung. Wenn andere Themen aufkämen, dann seien andere Fachbereiche zuständig. Eine solche Rollenklärung ist auch für Thomas Pfiffner sehr wichtig. Es handle sich um eine weitere Berufsgruppe, die die bisherigen Teams ergänzen – Fachleute aus anderen Berufsgruppen müssten daher auch keine Angst haben, ihren Job zu verlieren.

Wie kann Peer-Beratung weiter gefördert werden?

Auch wenn mit Peer-Einsätzen nicht alle Hürden abgebaut werden können und es weitere Anstrengungen auch auf politischer und behördlicher Ebene braucht, um den Zugang zu und den Bezug von Sozialleistungen zu erleichtern: Die Peer-Arbeit birgt offenbar viel Potenzial für das Sozialsystem. Bisher ist sie aber noch wenig verbreitet, obwohl auch die UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) unter anderem in Artikel 26 dazu auffordert, die Peer-Unterstützung zu fördern.

Haltungs- und Paradigmenwechsel

In den Gesprächen erwähnten die Peer-Expert*innen verschiedene Massnahmen, die es dafür braucht. Für eine Förderung des Recovery-Ansatzes ist zunächst ein Haltungs- und Paradigmenwechsel notwendig: vom defizitären Verständnis hin zur Möglichkeit, lebendige Instabilität verständnisvoll zu ergründen. Das heisst, dass psychische Instabilität nicht als eine Art unveränderliches Defizit betrachtet wird, sondern vielmehr als natürlich, wiederkehrend und dynamisch. Weiter wäre wichtig, dass das Potenzial des Peer-Ansatzes noch stärker bekannt gemacht wird und die Anbietenden noch klarer gegen aussen kommunizieren, was Peer-Arbeit «im Kern» ausmacht und in welchen Fällen sie hilfreich sein kann. Mitarbeiter*innen von Gemeinden oder Kantonen, die oft chronisch überlastet seien, müssten rasch Informationen dazu finden, welchen Nutzen eine Peer-Beratung konkret für sie haben könnte.

Wirksamkeit der Peer-Beratung überprüfen

Wichtig wäre auch eine verstärkte Überprüfung der Wirksamkeit der Peer-Arbeit, um deren Nutzen noch besser darstellen zu können. Dies könnte ebenfalls zur Etablierung des Peer-Ansatzes beitragen.

Peer-Beratung professionalisieren und Peer-Ausbildung verbessern

Auch der Bedarf nach einer weiteren Professionalisierung und Qualitätssicherung wird angesprochen. Die bisherigen Peer-Ausbildungen bieten zwar einen guten und niederschwelligen Einstieg in die Peer-Arbeit. Es brauche aber zum Beispiel klare Standards und weitere Qualifizierungsmöglichkeiten, damit die Peer-Berater*innen als eigene Berufsgattung (besser) anerkannt würden. Dabei sollte laut Ben Dakon auch die bisherige Trennung der Peer-Ausbildungen für Menschen mit psychischen Erkrankungen und mit Behinderungen aufgehoben werden. Auch Menschen mit körperlichen oder anderen Behinderungen seien im Verlauf ihres Lebens häufig psychisch stark belastet und von psychischen Erkrankungen betroffen. Diese würden aber oft zu spät erkannt. Die Peer-Ausbildung sollte daher verschiedene Behinderungs- oder Erkrankungsformen miteinbeziehen.

Finanzierung

Und schliesslich stellt sich auch die Finanzierungsfrage: Anbieter*innen von Peer-Beratungen haben – vor allem ausserhalb von ambulanten oder stationären psychiatrischen Einrichtungen – oft sehr begrenzte finanzielle Mittel und personelle Ressourcen zur Verfügung. Um dies zu ändern, bräuchte es auch gesetzliche Anpassungen.

Fazit

Die Einbindung von Menschen mit eigenen Behinderungserfahrungen in die Beratung und Unterstützung anderer Betroffener hat ein grosses Potenzial. Durch ihre reflektierten Erfahrungen und das professionalisierte Erfahrungswissen können Peer-Berater*innen Brücken zwischen Menschen mit Behinderungen und Fachpersonen bauen. Dies trägt nicht nur zur besseren Verständigung und Unterstützung bei, sondern fördert auch das Vertrauen und die Selbstwirksamkeit der Betroffenen.

Die positiven Rückmeldungen und die erfolgreichen Beispiele aus der Praxis, wie bei der IV-Stelle Graubünden, verdeutlichen das Potenzial der Peer-Beratung. Dennoch gibt es noch Herausforderungen, wie die Notwendigkeit der Professionalisierung und Qualitätssicherung sowie die Sicherstellung der Finanzierung.

Um die Peer-Beratung weiter zu fördern, sind ein Haltungs- und Paradigmenwechsel sowie eine verstärkte Überprüfung der Wirksamkeit notwendig. Nur so kann das volle Potenzial dieser Unterstützungsmethode ausgeschöpft und die Inklusion und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft weiter gestärkt werden.

Links zur Peer-Beratung

Peer-Begleitung finden:

Unterstützung von Fachkräften:

  • Re-pairs Peer und team support (Kanton Waadt) (Unterstützung von Fachkräften, die ein Projekt rund um die professionelle Peer-Unterstützung entwickeln möchten)

Peer-Aus-/Weiterbildungen:

Peers anstellen:

Informationen zu Peer-Angeboten:

Recovery-Colleges:

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