Was ist Ableismus?

Der Begriff Ableismus ist abgeleitet vom englischen Konzept des «ableism» (able = fähig) und wird auch im Deutschen zunehmend verwendet. Das Konzept reflektiert den systemischen Charakter der Ungleichbehandlung sogenannt behinderter Menschen. Erstmals wurde es in den 1980er-Jahren in den USA von feministischen Aktivist*innen mit Behinderungen aufgebracht und ab Ende der 1990er-Jahre im Rahmen der Disability Studies weiterentwickelt. Heute wird der Begriff zunehmend von Bewegungen eingesetzt, die gegen die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen kämpfen.

Das Konzept des Ableismus besagt zunächst, dass westliche Gesellschaften darauf beruhen, Fähigkeiten einen hohen Wert beizumessen, ebenso wie sie auf der Überzeugung basieren, dass nicht behinderte Menschen anderen überlegen sind. Nicht nur werden «fähige», nicht behinderte Körper gesellschaftlich bevorzugt. Die ganze Lebenswelt ist auf fähige, als «normal» bezeichnete Menschen ausgerichtet. Institutionen, Städte, gesellschaftliche Rollen, Wohn-, Fortbewegungs-, Kommunikations-, Arbeits- und Freizeitformen beruhen alle auf der Vorstellung fähiger Individuen. In dieser Welt werden Eigenschaften wie Mobilität, bestimmte Denkweisen, Sprache oder funktionierende Sinnesorgane als selbstverständlich angesehen. Menschen, die nicht über diese als wertvoll anerkannten Fähigkeiten verfügen oder zumindest nicht so wahrgenommen werden, werden ausgegrenzt, unterdrückt, diskriminiert oder von verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen.

Ableismus verweist auf dieses System der Unterdrückung, das sogenannt behinderte Menschen benachteiligt und nicht behinderte privilegiert.

Ableismus ist vielschichtig

Wie andere Formen der Unterdrückung, beispielsweise Rassismus oder Sexismus, wirkt auch der Ableismus auf verschiedenen Ebenen: auf individueller (z. B. Diskriminierungserfahrungen), kultureller (z. B. Schönheits- oder Leistungskriterien) und institutioneller Ebene (z. B. die staatliche Politik, die sogenannt Behinderte oder Invalide als Belastung für die öffentlichen Haushalte betrachtet, oder das Bildungssystem, das auf Lernmethoden basiert, die Menschen, die als lernbehindert gelten, ausschliessen). Durch das Zusammenspiel all dieser Ebenen wird der gegenwärtige Zustand aufrechterhalten, der auf Privilegien beruht, die mit dem vorherrschenden Status der Nichtbehinderung verbunden sind. Die Fähigkeit, sich diesem Status anzunähern, beeinflusst zahlreiche Lebensbereiche einer Person, darunter ihre beruflichen und wirtschaftlichen Aussichten, ihre Beziehungen zu Mitmenschen oder ihren Zugang zu verschiedenen Lebensräumen. Kurz gesagt: Wir leben in einer ableistischen Gesellschaft.

Unterwegs in Bern © Agile/Mark Henley

Hierarchisierung der Leben

Das Konzept des Ableismus stellt auch etwas infrage, das oft als selbstverständlich angesehen und selten hinterfragt wird: die Hierarchisierung der Menschen aufgrund ihrer Fähigkeiten. Es geht also um den allgemeinen Glauben an die Überlegenheit und den höheren Wert des Lebens eines nicht behinderten Menschen gegenüber dem Leben eines behinderten Menschen, das oft als nicht lebenswert angesehen wird. Das Konzept stellt fest, dass bestimmte körperliche, mentale, die Sinne, das Verhalten oder das Aussehen betreffende Unterschiede stigmatisiert und auf Mängel, Beschränkungen, Begrenzungen und/oder Abnormität reduziert werden. In dieser Perspektive wird Behinderung als ein geschwächter, negativer oder sogar nicht ganz menschlicher Zustand definiert, als eine Tragödie oder ein Mangel, den es zu verbessern, zu heilen oder sogar zu beseitigen gilt. Eine unerwünschte und unnütze Abweichung. Sogenannt behinderte oder invalide Menschen gelten als geschädigt, oft auch als moralisch minderwertig. Die ableistische Gesellschaft wertet Menschen ab, die nicht den Fähigkeitsnormen entsprechen, und dies trotz der Absicht und des Bestrebens vieler nicht behinderter Menschen, sie gleichwertig zu behandeln. Da der Ableismus institutionalisiert und tief in unserem Weltbild verankert ist, ist diese strukturelle Diskriminierung, die auf einer Hierarchisierung der Menschen aufgrund ihrer Fähigkeiten beruht, weitgehend unsichtbar, und die Assoziation von Behinderung mit Minderwertigkeit gilt als «natürliche» Reaktion auf das, was als von der Norm abweichend wahrgenommen wird.

Das Ideal des nicht behinderten Menschen

Es geht beim Ableismus aber nicht nur um negative Einstellungen gegenüber sogenannt behinderten Menschen. Ableistische Gesellschaften definieren auch den Inbegriff des wünschenswerten Menschen, der als neutral gilt, als selbstverständlich. Es handelt sich um ein Ideal bzw. eine Norm: ein Mensch mit einem gesunden Körper und Geist, einer angemessenen Denkgeschwindigkeit, angebrachten Emotionen. Die Forschung zeigt, dass sich das aktuelle Konzept des wertgeschätzten Bürgers, der wertgeschätzten Bürgerin auf jemanden mit einem jungen, energiegeladenen, dynamischen, gesunden, schmerzfreien, mobilen und kontrollierbaren Körper ohne fehlende Körperteile bezieht. Auf eine Person, die autonom, eigenständig, unabhängig, arbeitsfähig, wirtschaftlich erfolgreich, flexibel und in der Lage ist, produktiv zur Gesellschaft beizutragen. Dieses auf Fähigkeiten ausgerichtete Ideal haben die meisten Menschen verinnerlicht, unabhängig davon, ob sie diesen Normen entsprechen oder nicht.

In einer Gesellschaft, die Fähigkeiten einen hohen Stellenwert einräumt und sie idealisiert, ist fähig sein nicht nur erwünscht, sondern geradezu Pflicht.

Von jeder und jedem wird erwartet, dass sie oder er versucht, sich diesem Status anzunähern. Wenn Behinderung abschreckend und Nichtbehinderung ein ultimatives Ziel ist, kann jede Abweichung zu Zweifeln und moralischer Ablehnung führen. Deshalb haben insbesondere sogenannt behinderte oder invalide Menschen kaum eine andere Wahl, als sich um Anpassung an die Standards der Normalität zu bemühen.

Ableismus betrifft uns alle

Ableismus betrifft zwar jede und jeden, nicht zuletzt, weil wir uns alle vor dem Schwinden unserer Fähigkeiten und den eigenen Unzulänglichkeiten fürchten, dennoch sind seine Auswirkungen nicht für alle dieselben. Auf der einen Seite profitieren einige aufgrund ihrer Position als Fähige tatsächlich vom derzeitigen System: Sie haben das Recht des Ableismus auf ihrer Seite. Auf der anderen Seite erfahren Menschen, die nicht den Fähigkeitsnormen entsprechen, spezifische Formen der Unterdrückung. Wenn sie beispielsweise versuchen, sich einem «normalen» Körper anzugleichen, sind sie mit abwertenden Blicken, Vorurteilen oder Institutionen konfrontiert, die ihre Sichtweise nicht anerkennen und sie in eine untergeordnete Position drängen.

Normvorstellungen hinterfragen

Das Konzept des Ableismus geht weiter als andere. Gewisse Ansätze haben zwar im Kampf gegen die Ungleichbehandlung von sogenannt behinderten Menschen zweifellos positive Aspekte, doch stellen sie die für diese Ausgrenzung mitverantwortlichen Normen nicht infrage. Wird beispielsweise über Behinderungen gesprochen, werden die gesellschaftlichen Hindernisse (insbesondere architektonische Hürden und Fragen der Einstellung) hervorgehoben, die den Zugang von Menschen mit eingeschränkten Fähigkeiten zu verschiedenen sozialen Räumen (Städte, Arbeit usw.) begrenzen. Mit diesem Ansatz können Hindernisse verringert werden, gleichzeitig wird damit aber die vorherrschende Auffassung bekräftigt, die Fähigkeiten valorisiert. Denn schliesslich soll die Beseitigung von Hindernissen dazu führen, sich dem Zustand eines fähigen Menschen anzunähern. So wird das ableistische Ideal aufrechterhalten, obwohl die Fähigkeitsstandards nicht von allen erreicht werden können.

Ableismus beleuchtet und hinterfragt das System selbst, das Leben klassifiziert und priorisiert.

Die Gesellschaft neu denken

Der Ableismus ermöglicht es, bestehende Normen (z. B. die Norm der fähigen Bürgerin bzw. des fähigen Bürgers oder des autonomen Subjekts), die Privilegien der sogenannt Nichtbehinderten und den systemischen Charakter der Diskriminierung aufgrund von Fähigkeiten infrage zu stellen: alle (bewussten oder unbewussten) Handlungen, Praktiken und Vorstellungen, die eine unterschiedliche oder ungleiche Behandlung aufgrund von tatsächlichen oder vermuteten Unfähigkeiten fördern. Er weist auf eine tief verwurzelte Art und Weise hin, wie wir Menschen betrachten. Diese führt zu Unterdrückungen und Privilegien aufgrund von körperlichen, intellektuellen oder verhaltensbezogenen Unterschieden. Schliesslich ermöglicht er es, Behinderung oder Abhängigkeit in andere Konzepte zu fassen: Möglichkeiten und Ressourcen. Und er regt dazu an, die Gesellschaft zu überdenken.

Monika Piecek
Monika Piecek – Chargée de recherche, Haute École de travail social et de la santé (HETSL)

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