Assistenzbeitrag: IV-Bedarfsabklärung genügt UNO-BRK nicht

Eigentlich wäre es ganz einfach: Menschen mit Behinderung erhalten die Mittel zugesprochen, die sie brauchen, um ihren behinderungsbedingten Unterstützungsbedarf zu decken. In der Praxis ist es aber kompliziert. Je nach Unterstützungsbedarf, Behinderung und Leistungserbringer zahlt ein anderes Kässeli – oder gar keins. Jedes Kässeli hat seine eigenen Richtlinien und nicht selten ein separates Bedarfsabklärungsinstrument.

Allein die IV hat für Hilflosenentschädigung, Intensivpflegezuschlag und Assistenzbeitrag je ein eigenes Bedarfsabklärungsinstrument. In der Schweiz gibt es über ein Dutzend weitere. Sich einen Überblick zu verschaffen war Gegenstand des Forschungsprojektes «Unterstützung beim Wohnen zu Hause: Instrumente zur Bedarfsabklärung». Das Projekt hat das Bundesamt für Sozialversicherungen in Auftrag gegeben.

Lebenssituation nur am Rande berücksichtigt

Die verschiedenen Abklärungsinstrumente unterscheiden sich sehr. Die IV-Instrumente sind defizitorientiert und gehen vom medizinischen Modell von Behinderung aus. Sie sind stark standardisiert und beziehen die aktuelle Lebenssituation der Assistenzbeziehenden nur am Rande mit ein. Beim Assistenzbeitrag gibt es zwar eine Selbsteinschätzung, die ist aber nicht entscheidend für die Zusprache. Damit erfüllen die Abklärungsinstrumente der IV die Vorgaben der UNO-BRK nicht. Die fordert nämlich die freie Wahl der Lebensweise, unabhängig davon, wie hoch der Unterstützungsbedarf ist. Umweltfaktoren wie beispielsweise die fehlende Hindernisfreiheit müssen ebenso miteinbezogen werden, wie die persönlichen Präferenzen. Der Selbsteinschätzung kommt deshalb ein hoher Stellenwert zu.

Emfehlungen entsprechen der UNO-BRK

Das Projekt verglich aber nicht nur die Bedarfsabklärungsinstrumente, sondern es gab auch Empfehlungen ab. Einige davon liegen auf der Hand: Die Abklärungsinstrumente müssen UNO-BRK konform sein, hindernisfrei und unter Einbezug von Menschen mit Behinderungen entwickelt werden. Weitere Empfehlungen betreffen Forderungen, die wir von Anfang an stellten: Menschen mit Behinderungen sollen aktiv über die Unterstützungsmöglichkeiten informiert werden. Es soll geprüft werden, ob die Abklärung an eine unabhängige Stelle ausgelagert werden könnte. Damit wird die problematische Doppelrolle der IV als Leistungsfinanziererin und Bedarfsabklärungsstelle hinterfragt.

Aufhorchen lässt vor allem diese Empfehlung: Hilflosenentschädigung, Intensivpflegezuschlag und Assistenzbeitrag sollen zu einer individuellen Leistung zur Förderung der Selbstbestimmung und sozialen Teilhabe zusammengefasst werden. Damit wären wir wieder bei dem, was wir schon vor 20 Jahren gefordert haben: ein Assistenzbudget, mit dem wir unseren gesamten Unterstützungsbedarf decken können. Hoffen wir, dass wir darauf nicht weitere 20 Jahre warten müssen!

Die Einzelheiten gibt’s im Forschungsbericht «Unterstützung beim Wohnen zu Hause: Instrumente zur Bedarfsabklärung».

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