Segregation und Fremdbestimmung verhindern Inklusion
Inklusion kann nur durch Selbstbestimmung und Teilhabe realisiert werden. Menschen mit Behinderungen sollen gleichberechtigt ihren Aufenthaltsort wählen und entscheiden können, wo und mit wem sie leben, wie sie ihren Wohnraum gestalten, was und wann sie essen, ob sie Haustiere haben oder welche Musik sie hören. Auch über alle anderen Aktivitäten, die mit der Entwicklung der Identität und Persönlichkeit eines Menschen verbunden sind, sollen Menschen mit Behinderungen selbst bestimmen können.
Wer in einer Institution lebt, hat weniger Möglichkeiten als andere Menschen, seine Identität und sein Potenzial zu entwickeln. Der Wohnraum in einer Institution ist nicht privat. Zudem ist er auch Lebensraum und formale Organisation, in der Gruppen von Menschen und ihre Bedürfnisse von Dritten verwaltet werden. Wohnleistungen, Pflege und Unterstützung werden dabei von derselben Autorität angeboten.
Regeln, Normen und Fremdbestimmung
Da alles an einem Ort innerhalb derselben Gruppe von Menschen stattfindet, können Bewohner*innen einer Institution nicht gleich häufig zwischen verschiedenen Rollen wechseln. Sie entwickeln typische Rollenbilder, Handlungs- und Interaktionsmuster, die den Regeln und Normen der Institution entsprechen. Zudem werden sie durch das Personal bis zu einem gewissen Grad kontrolliert und überwacht und können über viele Alltagsangelegenheiten nicht selbst bestimmen.
Menschen, die in Institutionen leben, sind einem deutlich erhöhten Risiko von Gewalt ausgesetzt.
Obwohl sich vor allem die Ausrichtung von Institutionen der Behindertenhilfe seit den 1970er Jahren verändert hat, ist eine grundsätzliche Wandlung der Behindertenbetreuung im Bereich Wohnen nicht passiert, obschon die Deinstitutionalisierung schon jahrzehntelang gefordert wird.
Eingeschränkte Autonomie und Teilhabe
Nach Einschätzung von Menschen mit Behinderungen, die in Institutionen leben, können sie nur sehr begrenzt selbst über ihr Leben bestimmen und an der Gesellschaft teilhaben. Viele Institutionen richten sich nicht an der UNO-BRK aus und beziehen Menschen mit Behinderungen kaum oder gar nicht in ihre Planungen mit ein (siehe Schattenbericht zur Umsetzung der UNO-BRK, Seite 84).
Wenn Fachpersonen ermitteln, welchen Bedarf erwachsene Menschen mit Behinderungen im Bereich Wohnen haben, orientieren sie sich oft nicht am Menschen und an der Teilhabe an der Gesellschaft ausserhalb der Institution. Vielmehr konstruieren sie den Bedarf so, dass sich die Menschen an den bestehenden, segregativen institutionellen Rahmen anpassen müssen. Die Autonomie und Mitbestimmung von Menschen mit Behinderungen sind deshalb in verschiedener Hinsicht eingeschränkt. Ausserdem sind die Leistungen der Behinderteneinrichtungen noch stark vom fürsorgerischen Ansatz geprägt.
Segregation und Isolierung diskriminieren
Diese Bedingungen widersprechen internationalen und nationalen Normen. Das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) verpflichtet die Schweiz zum Beispiel dazu, Menschen mit Behinderungen gleich zu behandeln wie andere Menschen und Rahmenbedingungen zu schaffen, die ihnen die selbstständige Pflege sozialer Kontakte und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erleichtern.
Das Grundprinzip der UNO-BRK ist die Inklusion, die durch Selbstbestimmung und Teilhabe realisiert werden soll. Besonders wichtig für das selbstbestimmte Wohnen ist Artikel 19 der UNO-BRK: Er fordert die Anerkennung des gleichen Rechts aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben. Die Allgemeine Bemerkung Nr. 5 weist darauf hin, dass die Gleichheit und Nichtdiskriminierung zu den Grundprinzipien der internationalen Menschenrechtsgesetzgebung gehören. Segregation und Isolierung gelten als Diskriminierung.
Leben wo man will
Menschen mit Behinderungen sollen gemäss UNO-BRK nicht verpflichtet werden, in besonderen Wohnformen zu leben. Sie sollen ihren Lebensort frei wählen können. Damit sie dieses Recht wahrnehmen und vollumfänglich an der Gemeinschaft teilnehmen können, müssen die Vertragsstaaten wirksame und geeignete Massnahmen treffen. Sie müssen zum Beispiel den Zugang zu gemeindenahen Unterstützungsdiensten sicherstellen, einschliesslich persönlicher Assistenz. Mehr dazu siehe Leben mit Assistenz.
UNO-BRK fordert Deinstitutionalisierung
Die UNO-BRK fordert explizit eine Deinstitutionalisierung. Dies bekräftigte der UNO-BRK-Ausschuss in seiner Antwort auf den ersten Staatenbericht der Schweiz zur Umsetzung der UNO-BRK im Jahr 2016. Die UNO verlangt in einer «List of issues» von der Schweiz, dass sie darüber informiert, welche Massnahmen auf allen Regierungsebenen ergriffen wurden, um die Institutionalisierung aller Menschen mit Behinderungen zu beenden.
Im Jahr 2022 äusserte der Ausschuss in seinen abschliessenden Bemerkungen zum Initialstaatenbericht der Schweiz erneut seine Besorgnis über die Lücken und Hürden, die in der Schweiz weiterhin bestehen. Konkret kritisiert er «die Heimunterbringung von Erwachsenen und Kindern mit Behinderungen, einschliesslich Menschen mit kognitiven oder psychosozialen Behinderungen und autistischen Menschen, sowie Berichte über Gewalt und Missbrauch in diesen Einrichtungen». Ebenfalls besorgt ist er über «das Fehlen eines umfassenden Systems zur Bereitstellung von individueller Unterstützung und persönlicher Hilfe für ein unabhängiges Leben in der Gemeinschaft und über den Mangel an erschwinglichem und zugänglichem Wohnraum in der Gemeinschaft für Menschen mit Behinderungen».
Schweizer Programme und Visionen ungenügend
Der aktualisierte Schattenbericht der Zivilgesellschaft anlässlich des ersten Staatenberichtsverfahrens der Schweiz weist darauf hin, dass weder das Programm «Selbstbestimmtes Leben» noch die SODK-Vision (siehe Selbstbestimmt Wohnen: Chronologie) als Strategie zur Deinstitutionalisierung im Sinne der Allgemeinen Bemerkung Nr. 5 bezeichnet werden können. Vielmehr klammern Bund und Kantone die dafür nötigen Prozesse aus. Dazu gehören zum Beispiel der Abbau und Ersatz von institutionellen Wohnformen, ein Transfer von Ressourcen, die Anpassung von Bedarfsplanungen oder die Neukonzipierung von Unterstützungsleistungen.