Mehr Dialog statt teurer Gutachten
Mit der 7. IVG-Revision wurden zwar einige Verbesserungen im Bereich der Gutachten beschlossen. Agile fordert aber die konsequente Umsetzung weiterer Empfehlungen aus der Evaluation der medizinischen Begutachtung in der Invalidenversicherung. Die Anzahl externer Gutachten soll reduziert werden, indem der Austausch und der Dialog zwischen den versicherten Menschen, deren behandelnden Ärztinnen und Ärzten und der IV/den RAD verstärkt wird.
Im Jahr 2019 hat die Invalidenversicherung (IV) etwas mehr als 16 000 Neurenten gesprochen. Mehr als ein Viertel der Rentenentscheide wird jährlich juristisch angefochten. Bei ihren Rentenzusprachen und -ablehnungen stützen sich die kantonalen IV-Stellen massgeblich auf externe medizinische Gutachten. In den letzten Jahren wurden jährlich jeweils zwischen 70 und 100 Millionen Franken für circa 15 000 externe Gutachten der IV ausgegeben (siehe Evaluation der medizinischen Begutachtung in der Invalidenversicherung von Interface und der Universität Bern vom August 2020). Ein lukrativer Markt, den per November 2023 32 mehrheitlich private Unternehmen bewirtschaften. Sie alle haben einen Vertrag mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV).
Bei den Gutachten wird zwischen mono, bi- und polydisziplinären Gutachten unterschieden. Bei der monodisziplinären Begutachtung ist eine medizinische Fachrichtung involviert, bei der bidisziplinären sind es zwei, bei der polydisziplinären sind mindestens drei Spezialistinnen und Spezialisten involviert
Begutachtungen sind für die betroffenen Menschen eine grosse Belastung,stellen sie doch einen erheblichen Eingriff in ihre physische und/oder psychische Integrität dar.
Kritik an der Begutachtung
Seit 2012 werden Aufträge für polydisziplinäre Gutachten nach dem Zufallsprinzip über eine IT-Plattform vergeben, nachdem Kritik laut geworden ist, dass die IV Unternehmen bevorzuge, die Gutachten im Sinne der sparwütigen Auftraggeberin ausstellten. Die Forderungen nach mehr Transparenz, Qualität und Unabhängigkeit bei Begutachtungen wurden lauter. Seit 2022 werden auch die bidisziplinären Gutachten nach dem Zufallsprinzip zugeteilt. Monodisziplinäre Gutachten werden bis heute direkt an externe Stellen vergeben.
Massnahmen der 7. IVG-Revision
Mit der 7. IVG-Revision hat das Parlament einige Massnahmen beschlossen, die auf die Praxis der Begutachtung abzielen: Die IV-Stellen müssen mittels Listen unter anderem die Anzahl Gutachten darlegen, die Gegenstand eines gerichtlichen Entscheids waren. Bei der Auftragsvergabe gilt das Zufallsprinzip nun auch für bidisziplinäre Untersuchungen. Die Gespräche zwischen dem Gutachter und der versicherten Person sollen mit Tonaufnahmen dokumentiert werden. Und es wurde eine Kommission geschaffen, die sich um die Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung kümmert.
Agile begrüsst diese Massnahmen, forderte aber in der Vernehmlassungsantwort zu den Ausführungsbestimmungen des IVG, dass die Empfehlungen aus eingangs erwähntem Evaluationsbericht konsequent umgesetzt und damit weitere Verbesserungen erreicht werden. Generell soll die Zahl der externen Gutachten reduziert werden, indem der Austausch und der Dialog zwischen den versicherten Menschen, deren behandelnden Ärztinnen und Ärzten und der IV/den RAD verstärkt wird (siehe Evaluationsbericht S. 64).
Einigungsverfahren
Für monodisziplinäre IV-Gutachten gilt die einvernehmliche Bestimmung der Sachverständigen. Ist die versicherte Person mit der von der IV vorgesehenen Gutachterperson nicht einverstanden, so muss die IV-Stelle sich wenn immer möglich eine einvernehmliche Einigung bemühen.
Agile begrüsst, dass mit dem Einigungsverfahren das Mitspracherecht der versicherten Person bei der Wahl der Gutachterperson gestärkt wird.
Unsere Forderungen
Wir sind dagegen, dass die Aufträge nur an Gutachterstellen vergeben werden, die mit dem BSV einen Vertrag haben. Das schränkt den Kreis der Gutachter*innen weiter ein und die bereits bestehenden Kapazitätsprobleme von kompetenten, selbstständig tätigen Gutachter*innen werden verschärfen.
Unverständlich ist, dass das Zufallsprinzip für bi- und polydisziplinäre Gutachten nur für die IV vorgeschrieben wird. Wir verlangen, dass das Zufallsprinzip in allen Sozialversicherungen angewandt wird.
Im Evaluationsbericht wird darauf hingewiesen, dass bei der heutigen Zufallsvergabe Mängel bestehen. Die können dazu führen, dass Gutachter*innen und Gutachterinstitute ihre Chancen auf den Erhalt eines Gutachtenauftrags mittels Mehrfachbeschäftigung oder dem Bilden von Verbünden unter den Gutachterstellen erhöhen. Damit kann das Zufallsprinzip ausgehebelt werden. Wir fordern, dass Mehrfachbeschäftigungen konsequent beschränkt und der Verbund unter Gutachterstellen unterbunden wird.
Studie zeigt, dass die Verlässlichkeit von Gutachten kritisch hinterfragt werden muss.
Tonaufnahmen von Interviews
Tonaufnahmen von Interviews erhöhen kostengünstig die Transparenz und die Nachvollziehbarkeit von Gutachten. Sie tragen damit auch zur Verhinderung von langwierigen und teuren Rechtsstreitigkeiten bei.
Begutachtungen sind für versicherte Personen mit grossem Stress verbunden. Agile begrüsst, dass der Versicherungsträger die versicherte Person frühzeitig, d.h. mit der Ankündigung der Begutachtung, über die Tonaufnahme, deren Zweck und deren Verwendung informiert. Der Versicherungsträger weist die versicherte Person auch darauf hin, dass sie auf die Tonaufnahme verzichten kann, wenn sie keine möchte. Das lässt der Person Zeit, um die Frage im Vorfeld und mit der Unterstützung ihres Umfelds zu klären.
Bei Interviews mit Gebärdenverdolmetschung soll die versicherte Person eine Video- statt der Tonaufnahme verlangen können.
Verzichtet die Person im Vorfeld auf die Tonaufnahme, soll sie diesen Entscheid unmittelbar vor dem Interview widerrufen können. Entscheidet sich eine Person kurz nach dem Interview gegen die Tonaufnahme, soll sie das zu Hause nochmals überdenken können. In dem Fall darf die Tonaufnahme so lange nicht gelöscht oder an den Versicherungsträger weitergegeben werden, bis die Person ihren Verzicht schriftlich bestätigt hat.
Die restriktiven Regelungen bei der Verwendung von Tonaufnahmen begrüssen wir. Sie dienen dem Persönlichkeitsschutz der versicherten Person. Die versicherte Person selbst soll die Tonaufnahmen aber jederzeit und nicht erst im Streitfall abhören und verwenden können. Zudem sollen Tonaufnahmen im Einverständnis mit der versicherten Person für Studien- und Weiterbildungszwecke sowie zur Qualitätssicherung genutzt werden dürfen.
Anforderungen an Sachverständige und Gutachterstellen
Im Sinne der Transparenz begrüssen wir die Definition von Zulassungskriterien für medizinische Sachverständige auf Bundesebene.
Unsere Forderungen
Damit ein möglichst grosser Praxisbezug erhalten und eine wirtschaftliche Abhängigkeit von Versicherungsträgern verhindert wird, fordern wir, dass Gutachter*innen auch während ihrer Gutachtertätigkeit in einer Arztpraxis oder in leitender spitalärztlicher Stellung klinisch tätig sein müssen. Zusätzlich soll für jede*n Gutachter*in eine Obergrenze an jährlich durchführbaren Begutachtungen festgelegt werden.
Gutachter*innen müssen über ein Zertifikat der Swiss Insurance Medicine (SIM) verfügen. Das führt aber zu einer Monopolstellung der SIM. Wir wünschen deshalb, dass auch andere, gleichwertige Zertifikate zugelassen werden.
Zur Einschätzung der Restarbeits- bzw. Leistungsfähigkeit hirnverletzter Personen soll die Neurorehabilitation in die Liste der Fachgebiete aufgenommen werden.
Wir erwarten, dass Gutachter*innen über behinderungsspezifisches Wissen verfügen, mit dem Schweizer Kontext vertraut sind und die Landessprachen inkl. Schweizerdeutsch verstehen. Muss auf eine Fachperson aus dem Ausland zurückgegriffen werden, drängt sich eine enge Zusammenarbeit mit einer hiesigen Ärztin oder einem Arzt auf.
Neben der öffentlich einsehbaren Liste mit den zugelassenen Gutachter*innen und Gutachterstellen erwarten wir, dass die Prüfung der fachlichen Anforderungen und der Qualitätsvorgaben klar geregelt und einer zentralen Stelle zugewiesen ist.
Eidg. Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung (EKQMB)
Agile begrüsst die Schaffung einer unabhängigen Kommission, die öffentliche Empfehlungen zu verschiedenen Kriterien der Begutachtung erarbeitet und deren Einhaltung überwacht. Die Aufgaben und Kompetenzen dieser Kommission sind gemäss Evaluationsbericht (S. 55ff) festzulegen.
Bezüglich Zusammensetzung der Kommission muss auf eine gleichmässige Vertretung von Versicherungsträgern und versicherten Personen geachtet werden. Die Amtszeit pro Kommissionsmitglied ist auf acht Jahre zu beschränken.
Unsere Forderungen
Die Sitzungen der Kommission sollen protokolliert und die Umsetzung ihrer Empfehlungen aktiv beobachtet werden.
Wir fordern, dass die Zahl der Vertreter*innen von Behinderten- und Patientenorganisationen auf drei Personen erhöht wird. Mindestens eine Person muss dabei selbst mit einer Behinderung oder chronischen Krankheit leben, um die Perspektive der Leistungsempfänger*innen bzw. der Selbsthilfe einzubringen. Das entspricht im Übrigen auch der Vorgabe aus Art. 33 Abs 3 der UNO-Behindertenrechtskonvention.
Begutachtungen sind für die betroffenen Menschen eine grosse Belastung, stellen sie doch einen erheblichen Eingriff in ihre physische und/oder psychische Integrität dar. Hinzu kommt, dass die Verlässlichkeit von Gutachten kritisch hinterfragt werden muss: Die RELY-Studie zeigte auf, dass die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen je nach Gutachter*in unterschiedlich ausfällt.
Agile verlangt, dass konsensorientierte Massnahmen in allen Phasen des IV-Verfahrens oberste Priorität haben und der Dialog der involvierten Akteure bewusst gepflegt wird.