Simone Leuenberger - 
Wissenschaftliche Mitarbeiterin Agile

Der kleine Unterschied – und warum er für Inklusion entscheidend ist

Die Schweiz verspricht Gleichstellung – doch für Menschen mit Behinderungen bleibt sie oft ein leeres Versprechen. Wie politische Versäumnisse und gesellschaftliche Ausgrenzung echte Inklusion verhindern, macht der Erfahrungsbericht von Simone Leuenberger deutlich: Es sind nicht nur bauliche Hürden, die Teilhabe erschweren – es ist ein System, das Menschen mit Behinderungen systematisch ausschliesst.

Mit grosser Freude habe ich fürs Parkieren bezahlt – ist Ihnen das auch schon passiert? Wahrscheinlich schütteln Sie jetzt verständnislos den Kopf. Für mich war es tatsächlich ein besonderer Moment: Zum ersten Mal konnte ich kürzlich selbstständig mein Parkticket lösen und bezahlen. Das braucht eine Erklärung!

Aufgrund meiner Behinderung bin ich auf einen Elektrorollstuhl angewiesen. Den Geldeinwurf der Parkautomaten kann ich nicht erreichen – er ist schlicht zu hoch. Oft stehen diese Geräte zusätzlich auf einem Sockel, sodass ich nicht einmal nahe genug heranfahren kann, um zu lesen, was zu tun wäre.

Seit einiger Zeit kleben an vielen Parkuhren QR-Codes. Leider sind auch diese meist zu hoch angebracht. Ich kann mein Smartphone nicht nahe genug heranhalten, um den Code zu scannen. Wenn ich alleine unterwegs bin, bleiben mir zwei Möglichkeiten: warten, bis eine fremde Person vorbeikommt, und um Hilfe bitten – oder eine Busse riskieren.

Doch dieser eine Automat war anders! Kein Sockel, und der QR-Code klebte nicht auf Brust- sondern auf Bauch­höhe. Ein kleiner Unterschied – für mich aber ein entscheidender: Ich konnte zum ersten Mal in meinem Leben selbstständig fürs Parkieren bezahlen.

Manchmal braucht es nicht viel, um uns Menschen mit Behinderungen das Leben zu erleichtern. Doch leider werden wir viel zu oft vergessen. Viel zu häufig wird über uns gesprochen – statt mit uns. Wir werden nicht einbezogen, und so kommt niemand auf die Idee, den QR-Code auch weiter unten anzubringen.

Leben in der Parallelwelt

Warum ist das so? In der Schweiz lebt jede fünfte Person mit einer Behinderung. Und doch begegnen wir Menschen mit Behinderungen im Alltag kaum. Sie fehlen in der Schule, in der Ausbildung, in der Arbeitswelt. Auf dem Sportplatz oder im Konzertsaal sehen wir sie selten bis gar nicht. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass sich Menschen mit Behinderungen in einem lokalen Verein engagieren, in einer eigenen Wohnung leben oder gar eine Familie gründen.

Die Schweiz hat für Menschen mit Behinderungen ein eigenes Parallelsystem geschaffen – und lässt sich das einiges kosten. Es gibt spezielle Ausbildungs-, Arbeits- und Wohnorte sowie besondere Freizeit- und Ferienangebote. Menschen mit Behinderungen bleiben dabei meist unter sich – ob sie das wollen oder nicht. So werden sie vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Ihre Anliegen bleiben weitgehend unbekannt. Und sie geraten systematisch in Vergessenheit.

Hindernisse erschweren den Alltag

Mit meinem Lebenslauf gehöre ich zu den privilegierten Menschen mit Behinderungen: Ich besuchte die Dorfschule, absolvierte eine Ausbildung, bin berufstätig, wohne in einer eigenen Wohnung und verbringe meine Freizeit mit Freunden und Familie. Für viele Menschen mit Behinderungen ist all das leider noch immer nicht selbstverständlich.

Doch auch ich stosse im Alltag täglich auf Hindernisse, die mir das Leben in der Gesellschaft erschweren – oder gar verunmöglichen. Und das nicht nur beim Parkieren. Wenn ich mit dem Zug reisen möchte, geht das fast nur mit einer Voranmeldung von mindestens einer Stunde. Spontane Reisen kenne ich kaum. Ein Restaurant oder eine Veranstaltung ohne vorgängige Abklärung zu besuchen, ist mit dem Risiko verbunden, draussen bleiben zu müssen.

Auf das Feierabendbier verzichte ich lieber, denn ein rollstuhlgängiges WC ist selten in nützlicher Nähe zu finden. Konzerttickets zu kaufen ist eine Meisterleistung: Wenn ich Glück habe, finde ich eine Telefonnummer – und verbringe dann viel Zeit in der Warteschlaufe. Nachbarn, Freunde oder Familie besuchen? Fehlanzeige. Die meisten Wohnungen sind nur über Stufen erreichbar.

Gleiche Rechte

Menschen mit Behinderungen stossen in der Schweiz noch immer auf gravierende Barrieren. Viele dürfen nicht wählen und abstimmen, können nicht selbst entscheiden, wo und mit wem sie leben möchten – und sie können sogar noch immer zwangssterilisiert werden. Würden Sie sich das gefallen lassen?

Wir Menschen mit Behinderungen lassen uns nicht länger behindern und ausschliessen. Wir fordern eine inklusive Gesellschaft – eine Gesellschaft, die wir mit unserer Anwesenheit, unserer Perspektive, aber auch mit unseren Erfahrungen, unserem Wissen und Können bereichern dürfen. Das ist nur möglich, wenn wir dieselben Rechte haben wie Menschen ohne Behinderungen. Die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen muss in der Bundesverfassung verankert werden!

Aus diesem Grund haben wir im September 2024 die Inklusionsinitiative eingereicht. Sie wird von einer breiten Trägerschaft unterstützt – darunter den beiden Dachverbänden Agile und Inclusion Handicap. 

Auch der Bundesrat erkennt inzwischen, dass die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen vorangetrieben werden muss. Im Dezember 2024 hat er einen indirekten Gegenvorschlag zur Inklusionsinitiative angekündigt. Mit dem neuen Inklusionsrahmen­gesetz will er die Stossrichtung und Leitplanken für die Gleichstellung auf Bundes- und Kantonsebene festlegen. 

Schlüssel zur Inklusion

Das Versprechen klingt zwar gut – reicht uns Menschen mit Behinderungen aber nicht. Wir warten seit Jahren auf Gleichstellung und lassen uns nicht länger auf später vertrösten.

Deshalb haben wir am 12. Juni auf dem Bundesplatz in Bern das Manifest «Schlüssel zur Inklusion» an Parlamentarierinnen und Parlamentarier übergeben. Mit einem symbolischen Schweigeprotest haben wir darauf aufmerksam gemacht, dass die Gleichstellung der 1,9 Millionen Menschen mit Behinderungen in der Schweiz nach wie vor nicht verwirklicht ist – und dass wir Menschen mit Behinderungen einbezogen werden wollen, wenn es um uns geht.

Für ein echtes Inklusionsgesetz

Im Manifest fordern wir ein echtes Inklusionsgesetz – eines, das nicht bei wohlklingenden Absichtserklärungen stehen bleibt. Acht zentrale Punkte sind dabei entscheidend:

  • Das Gesetz muss alle Lebensbereiche abdecken. Es soll klar regeln, wie Menschen mit Behinderungen in Schule, Arbeit, Wohnen und Freizeit gleichberechtigt teilhaben können.
  • Es braucht verbindliche Ziele für Bund und Kantone. Die Umsetzung muss durch eine unabhängige Stelle kontrolliert werden.
  • Die Sprache des Gesetzes muss respektvoll sein. Begriffe wie «invalid» (gleichbedeutend mit «wertlos») haben in einem modernen Gesetz keinen Platz.
  • Getrennte Strukturen müssen der Vergangenheit angehören. Menschen mit Behinderungen sollen nicht mehr separat wohnen, arbeiten und lernen müssen. Gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist ein Menschenrecht.
  • Selbstbestimmung muss für alle gelten. Menschen mit Behinderungen sollen – wie alle anderen – frei wählen können, wie und wo sie leben möchten. Die Art oder Schwere der Behinderung darf dabei keine Rolle spielen.
  • Heime dürfen kein Zwang sein. Stattdessen braucht es passende Unterstützung für ein Leben in den eigenen vier Wänden. Die finanziellen Mittel müssen entsprechend umgeschichtet werden.
  • Mitbestimmung ist unverzichtbar. Menschen mit Behinderungen und ihre Organisationen müssen bei allen Fragen, die sie betreffen, mitentscheiden können.
  • Das Gesetz darf kein Papiertiger sein. Es braucht konkrete Massnahmen – etwa ein Impulsprogramm für hindernisfreies Wohnen.

Update: Bundesrat präsentiert Gegenvorschlag ohne Inklusion

Am 25. Juni 2025 schickte der Bundesrat seinen indirekten Gegenvorschlag zur Inklusionsinitiative in die Vernehmlassung. Dieser umfasst ein Rahmengesetz zur Inklusion sowie geringfügige Anpassungen im Invalidenversicherungsgesetz (IVG).

Agile ist entsetzt: Der Entwurf bleibt in zentralen Punkten ungenügend, verfehlt das Ziel echter Inklusion und missachtet das Recht auf Selbstbestimmung von Bürger*innen mit Behinderungen. Gemeinsam mit den Mitgliedsorganisationen der Inklusionsinitiative fordert Agile einen Gegenvorschlag, der echte Inklusion ermöglicht. Link zur Medienmitteilung: Ein Gegenvorschlag ohne Inklusion – Agile zeigt sich entsetzt

Der Treppenlift macht mitbetroffen

Seit Juni 2022 darf ich als Grossrätin unseren Kanton Bern mitgestalten. Zum Ratssaal führt eine lange Treppe – ein Hindernis, das einst auch der Bieler Anwalt und spätere Nationalrat Marc F. Suter überwinden musste. Seinetwegen wurde ein Treppenlift eingebaut. Und genau dieser Lift führt auch heute noch zum Ratssaal.

Eine Fahrt dauert fünf Minuten. Pro Session verbringe ich zusammengerechnet einen ganzen Sessionsmorgen auf dem Treppenlift – und das nur für die unbedingt nötigen Fahrten. Den Gang aufs WC kann ich mir während der Debatten nicht erlauben. Allein der Weg dorthin und wieder zurück würde rund 10 Minuten dauern. Regelmässig erhalte ich Besuch von meinen Schulklassen. Ihnen kurz auf der Tribüne «Hallo» zu sagen, wie es andere Grossräte und Grossrätinnen tun, ist mir nicht möglich. Ihre Fragen müssen sie sich für den Unterricht aufsparen.

Seit meinem ersten Tag als Grossrätin ist der Treppenlift nicht nur für mich ein Thema, sondern auch für meine Ratskolleginnen und -kollegen. Täglich gehen sie mehrmals an mir vorbei, wenn ich langsam auf der Plattform hoch- oder hinuntergondle.

Anfangs hiess es: «Kann man diesen Treppenlift nicht schneller machen?» Selbst wenn er doppelt so schnell wäre, er wäre immer noch zehnmal langsamer als ein Personenlift.

Später reichten Grossratsmitglieder aus allen Fraktionen eine Motion für den Einbau eines Personenlifts ein. Der Vorstoss wurde – gegen den Willen der Regierung – einstimmig überwiesen. Ich kommentierte das auf den sozialen Medien so: «Eindrücklich, was alles möglich ist, wenn plötzlich von 160 Grossrätinnen und Grossräten 159 mitbetroffen sind, weil sie die umständliche Fahrt täglich miterleben können.»

Behindert – ein Schimpfwort?

Mitbetroffen von all den Hindernissen, die uns die Gesellschaft im Alltag in den Weg stellt, sind auch jene Menschen, die ihr Leben mit uns teilen. Leider leben Menschen mit und ohne Behinderungen noch viel zu oft getrennt – und kennen die Lebenswelten der jeweils anderen kaum. Hindernisse bleiben dadurch unsichtbar und bestehen weiter. Und wenn wir dann doch einmal auf Menschen mit Behinderungen treffen, wissen viele nicht, wie sie sich verhalten sollen. Wir sind ihnen fremd.

Neuerdings wird sogar der Begriff «Behinderung» aus dem Wortschatz verbannt. Er gelte als Schimpfwort – man solle stattdessen «Beeinträchtigung» sagen. Solche und ähnliche Aussagen höre ich immer wieder.

Mich stören die Begriffe «Behinderung» und «behindert» nicht – im Gegenteil! Sie benennen, was wir sind und was wir werden: behindert. Wir sind in unserem Alltag behindert, weil die Gesellschaft uns immer wieder Hindernisse in den Weg stellt. Dass ich mich im Rollstuhl fortbewege, gehört zu meiner Lebensweise. Dass ich deshalb weitgehend vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen bin oder nur mit grossem Zusatzaufwand teilhaben kann, behindert mich.

Wenn wir den Begriff «Behinderung» aus unserem Wortschatz verbannen, verkennen wir auch, dass sich die Gesellschaft ändern muss – damit wir Menschen mit Behinderungen endlich gleichwertig teilhaben können.

Es braucht den politischen Willen, strukturelle Barrieren abzubauen, und den gesellschaftlichen Mut, Vielfalt als Bereicherung zu leben.

Vorbild Kanton Bern?

Wie steht es eigentlich um die Gleichstellung und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen im Kanton Bern? Vor Jahren war der Kanton Bern tatsächlich ein Vorreiter: Lange bevor auf Bundesebene das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft trat, hatte Bern bereits Vorschriften zum hindernisfreien Bauen im Baugesetz verankert. Inzwischen ist dieses Gesetz jedoch veraltet.

Der Kanton Bern gehörte zu den ersten, die mit einem Pilotprojekt ermöglichten, dass Menschen mit Behinderungen in der eigenen Wohnung leben konnten – und nicht in Heimen –, selbst wenn sie auf Unterstützung angewiesen waren. Aus dem Pilotprojekt wurde 2024 ein Gesetz: das Behindertenleistungsgesetz. Es soll Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Doch die Umsetzung kommt kaum voran und ist administrativ sehr komplex – während andere Kantone inzwischen funktionierende Systeme etabliert haben.

Bereits vor 17 Jahren beauftragte der Grosse Rat die Regierung, die Einrichtung einer Fachstelle zur Umsetzung der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen zu prüfen. Damals war das ein innovativer Vorstoss – doch die Prüfung fand nie statt. Inzwischen ist eine solche Stelle in vielen Städten und Kantonen Standard. Im Kanton Bern hingegen fehlt sie bis heute. Es gibt keine zentrale Stelle, die die Umsetzung der Gleichstellung koordiniert und die kantonale Verwaltung mit Know-how unterstützt.

Immerhin hat der Regierungsrat in der Sommersession erneut einen Prüfauftrag des Grossen Rates entgegengenommen. Hoffentlich dauert es diesmal nicht wieder 17 Jahre!

Fazit

Die Gleichstellung von uns Menschen mit Behinderungen darf kein Zukunftsversprechen bleiben – sie muss Realität werden. Es braucht den politischen Willen, strukturelle Barrieren abzubauen, und den gesellschaftlichen Mut, Vielfalt als Bereicherung zu leben. Denn Inklusion beginnt dort, wo wir einander begegnen – auf Augenhöhe.

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